Kategorie: Film
"Menschen, Träume, Taten"
Die Mitglieder des Ökodorfs in der Altmark stehen noch immer vor den großen Fragen der Gesamtgesellschaft.
Unterrichtsfächer
Thema
Gelebte Utopie
Der Himmel über der brandenburgischen Altmark ist grau. Es regnet auf die Wiesen und Felder des einsamen Landstrichs, auch auf die Dächer im Ökodorf Sieben Linden. Es gibt gemütlichere Vorstellungen von gelebter Utopie, aber die über hundert Bewohner/innen ficht das nicht an. Vor zehn Jahren sind sie hierher gekommen, um ihre Vorstellung von selbstbestimmtem Leben wahr zu machen, "den Traum total ernst zu nehmen", wie Mitgründerin Silke Hagmeier sich ausdrückt. Sieben Linden ist ein Gesellschaftsentwurf, getragen vom festen Willen aller zu genossenschaftlicher Selbstverwaltung, gegenseitiger Verantwortung und ökologischer Nachhaltigkeit. Hier in der Altmark, 150 Kilometer westlich von Berlin, fanden sich gute Voraussetzungen für biologischen Landbau und weitgehend autarke Ökonomie. Im Monat zahlt jedes Mitglied etwa 260 Euro für Lebensmittel, Brennholz und neben weiteren Fixkosten wie Warmwasser auch eine Platzmiete. Statt Autos benutzen die Öko-Dörfler Fahrräder, als Traktor dient ein Pferdewagen; ihre Häuser haben sie selbst errichtet, dem äußeren Anschein nach eher provisorisch. Tatsächlich jedoch steckt in den ausgeklügelten Abwassersystemen und Holzheizanlagen das Wissen ausgebildeter Handwerker/innen und Ingenieure/innen. Dennoch: Die Bauern der Nachbargemeinde betrachten die einfachen Behausungen mit einiger Skepsis. "Wie die Zigeuner früher gelebt haben", meint einer von ihnen – aber in dem Befremden klingt auch Sympathie mit.
Zivilisationsmüdigkeit und Graswurzelideologie
Andi Stiglmayr, der sich bereits in dem Porträt des anarchistischen Reggae-Musikers Hanns Söllner ("Der bayerische Rebell" , 2003) mit einem notorischen Quertreiber beschäftigte, lässt in seinem neuen Dokumentarfilm viele Stimmen zu Wort kommen, um der Sehnsucht nach dem anderen Leben und den politischen Beweggründen dahinter auf den Grund zu gehen. Die erste Hälfte jedoch gehört fast ausschließlich Silke und Martin, einem Paar mit radikalen Ansichten. Vor allem Silke meint es ernst mit ihrer Mischung aus Zivilisationsmüdigkeit und Graswurzelideologie, auch in globaler Hinsicht: Für eine gerechte Verteilung des Wohlstands auf der Welt müsse jeder Bundesbürger seinen Konsum auf ein Zehntel des durchschnittlichen Verbrauchs senken. Diesem Anspruch gerecht zu werden, erfüllt sie mit Stolz. Das Hinterfragen ökologischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge ("Woher kommt die Porzellantasse auf meinem Tisch?") ist für sie Alltag. Für Martin steht eher die Selbsterfahrung im Vordergrund. Dazu gehört die kalte Dusche im Freien ebenso wie Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommune. Beides nimmt er mit Humor, den man wohl auch braucht, um "diesen verrückten Traum durchzusetzen“.
Herausforderungen des Zusammenlebens
Während der Himmel aufklart, werden im fortschreitenden Filmverlauf die zahlreichen Brüche und Streitigkeiten zwischen den Dorfmitgliedern jedoch mehr als deutlich. Den Zwängen der äußeren Gesellschaft mit ihren Idealen von Status und Konsum entkommen zu wollen – daraus entsteht keineswegs von selbst jene "kleine gleichgesinnte Gruppe von Menschen, die sich mögen", wie sie Silke vorschwebt. Zwar herrscht in der Gemeinschaftsküche ein herzlicher Umgang. Draußen hingegen scheinen viele alleine für sich zu werkeln. Es herrscht Uneinigkeit über manche zentrale Fragen. Wie hält man es mit der Kindererziehung? Ist sie Sache der Eltern oder der Gemeinschaft, gar der Großeltern, um den Erwachsenen ihre Freiheit zu lassen? Wie weit darf anti-autoritäre Erziehung gehen? Ebenfalls stark ideologisch aufgeladen ist ein weiterer Streitpunkt, die Tierhaltung. Der eine betrachtet das Leben mit den Mitgeschöpfen und ihre – im Ökodorf verbotene – Schlachtung als „natürlichen Prozess“. Die andere, Veganerin, hält bereits Silkes Pferdewagen für Ausbeutung der Tiere und erwägt den Austritt. Das alternative Leben, meint Martin einmal, braucht viel Kraft.
Der eigentliche Traum
Dass fast alle Originaltöne (O-Töne) die Form politischer Statements annehmen, liegt wohl in der Natur der Sache. Für eine gefällige Imitation von Reality-TV-Formaten wie Schwarzwaldhaus wären die Bewohner/innen wohl kaum zu haben gewesen. So sieht sich auch enttäuscht, wer sich von "Menschen, Träume, Taten " eine simple Affirmation alternativer Lebensweisen und Denkmodelle erwartet. Denn die Gräben zwischen den Bewohnern/innen sind so tief, dass sich immer wieder auch die Existenzfrage stellt: Ist das Projekt zukunftsfähig, in einer Entwicklungsphase oder bereits am Ende? Hier scheint der Filmemacher eine vermittelnde und beschönigende Position einzunehmen, allzu oft ergeht sich die Kamera in beschaulichen Naturbetrachtungen. Großaufnahmen von Maikäfern, Grashüpfern und Fliegenpilzen – musikalisch untermalt – beschwören eine Idylle, an der den Dorfbewohnern/innen nur in zweiter Linie liegt. Wichtiger sind ihnen, überspitzt formuliert, demokratische Entscheidungen, Eigenständigkeit und Energiebilanz. Auch die dramaturgische Strategie von Einzelinterviews erweist sich als ein Manko des Films. Ein Eindruck vom Gemeinschaftsleben in Sieben Linden will sich nicht recht einstellen, über die zähen Diskussionen zu manchen Detailfragen erfährt das Publikum nur vom Hörensagen. Was sich jedoch deutlich vermittelt, sind die Ideen, Sehnsüchte und Überzeugungen, die hinter Sieben Linden stehen. Und dass sich Träume und Ideologien jeden Tag erneut an der Realität messen müssen. Die Mitglieder des Ökodorfs in der Altmark stehen noch immer vor den großen Fragen der Gesamtgesellschaft. Darauf eine gemeinsame Antwort zu finden – das ist wohl die eigentliche Herausforderung.
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(Filmbesprechung vom 29.09.2006)
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