Eine Geschichte aus Harlem

Gabourey Sidibe als Claireece "Precious" Jones, Foto: Prokino Filmverleih

Prokino Filmverleih

Im New Yorker Stadtteil Harlem des Jahres 1987 ist Selbstbewusstsein dünn gesät. Doch kaum jemanden hat das Schicksal so hart getroffen wie Claireece Jones, genannt "Precious". Nichts an ihrem Leben erscheint "wertvoll". Das schwarze, schwer übergewichtige Mädchen ist mit seinen 16 Jahren schon durch jede Hölle gegangen. In der Schule gehänselt, von der Mutter misshandelt und vom Vater seit der Kindheit regelmäßig vergewaltigt, erwartet sie von diesem ihr zweites Kind. Die erste gemeinsame Tochter hat das Down Syndrom. Den Blick meist zu Boden gerichtet, möchte Precious sich am liebsten unsichtbar machen. Ihr Gang ist so schleppend wie ihr Sprechen. Sich auszudrücken fällt ihr schwer. Sie ist Analphabetin, hat im Leben wenig gelernt außer dem Gefühl der eigenen Wertlosigkeit. Tatsächlich klingt ihr Kosename wie Hohn.

Die eigene Stimme finden

"Precious – Das Leben ist kostbar" ist die Verfilmung des Romans Push (1996), ein Bestseller der afroamerikanischen Schriftstellerin Sapphire. Ihr charakteristisches Stilmittel, der sich in der grammatikalischen und intellektuellen Komplexität allmählich steigernde innere Monolog der Protagonistin, wird in der Verfilmung nur sporadisch aufgenommen. Dennoch wird Precious, die im Film auch als Zum Inhalt: VoiceoverOff-Erzählerin fungiert, am Ende des Films ihre Stimme gefunden haben. Es ist ein schmerzhafter Prozess.

Blick auf ein Trauma

Precious und ihre Mutter, Foto: Prokino Filmverleih

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Regisseur Lee Daniels beschönigt nichts. Mit einem scharfen Blick für das afroamerikanische Trauma eines seit jeher überwiegend unterprivilegierten Lebens wagt er sich in Bereiche, die selbst Filmemacher/innen des Black Cinema gerne aussparen. Wenn Precious in den Spiegel blickt, sieht sie das Wunschbild einer schönen weißen Frau. Dieses grausame Zerrbild einer sozial erworbenen Selbstdiskriminierung ist nicht weniger real als die alltägliche Armut und Erniedrigung, die Precious durchlebt. Vor allem das Leben mit ihrer Mutter ist kaum zu ertragen. Mary herrscht in ihrer Wohnküche, wo sie die von Precious zubereiteten Mahlzeiten vor dem Fernseher verschlingt, wie eine gewalttätige Sklavenhalterin. Die Hasstiraden dieser Frau würden weit stärkere Gemüter zerbrechen. Was den Charakter der Mutter derart deformiert hat, lässt der Film offen.

Schritte zum Ich

Ein tief liegender Überlebenswillen scheint das Mädchen anzutreiben. Wegen ihrer Schwangerschaft von der Schule suspendiert, besucht Precious gegen den Willen der Mutter eine "alternative" Schule. Hier kann sie vor allem mit tatkräftiger Hilfe von außen ihr Leben in bessere Bahnen lenken. Von ihrer liebevollen und engagierten Lehrerin wird sie nicht nur im Lesen und Schreiben unterrichtet, sondern auch zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit ermuntert. Gleichzeitig bringt eine behutsam fragende Sozialarbeiterin das Mädchen dazu, die unhaltbaren Zustände in seiner Familie zu offenbaren. Beide Frauen fungieren als Ersatzmütter. In der Schule bleibt Precious in einer fidelen Bande schwer erziehbarer Ghetto Queens zunächst Außenseiterin, findet aber nach und nach zu mehr Selbstbewusstsein.

Nicht nur Drama, nicht nur Märchen

Mariah Carey als Sozialarbeiterin, Foto: Prokino Filmverleih

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"Precious – Das Leben ist kostbar" ist jedoch genau so wenig sentimentale Erlösungsfantasie wie niederdrückendes Sozialdrama. Der große Gewinn des Films liegt gerade darin, dass harter Realismus und gute Unterhaltung keinen Widerspruch bilden. Bunte Traumsequenzen – immer wieder imaginiert sich Precious als umjubelter Star – und ein empathischer Soul- Zum Inhalt: FilmmusikSoundtrack dienen nicht nur als Stimmungsaufheller, sondern erschließen den Charakter der ungewöhnlichen Heldin. Auch begeht die auf authentische Milieuschilderung bedachte Kamera nicht den Fehler, das soziale Elend durch Zum Inhalt: Kamerabewegungenwackelige Bilder und dunkle Zum Inhalt: Licht und LichtgestaltungAusleuchtung unnötig zu verstärken. Am stärksten wiegen jedoch die überragenden Schauspielleistungen. Mit feinfühligem Engagement agieren hier Laien wie die Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe neben TV-Prominenten und den Popstars Mariah Carey als Sozialarbeiterin sowie Lenny Kravitz als Krankenpfleger John.

Kritik am Film

Nach einer begeisterten Aufnahme auf Festivals – der Film gilt vielen als Ausdruck des wieder erwachten schwarzen Selbstwertgefühls in der Obama-Ära – kam Kritik bisher vor allem von afroamerikanischer Seite: Regisseur Daniels bestätige mit seiner drastischen Darstellung schwarzen Lebens rassistische Vorurteile eines weißen Publikums. Allerdings kennt sein Realismus durchaus Grenzen. So werden die Vergewaltigungen durch den Vater nur andeutungsweise in Zum Inhalt: Rückblende/VorausblendeRückblenden visualisiert und zum Teil mit den Traumsequenzen verknüpft. Zudem wird die späte Enthüllung, dass Precious vom Vater mit dem HIV-Virus infiziert wurde, nicht weiter ausgeführt.

Am Ende: Emanzipation

Precious - Das Leben ist kostbar, Foto: Prokino Filmverleih

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Die positive Botschaft des Films wird nicht aufdringlich vorgetragen, sondern fast versteckt. "Warum ich?", kritzelt Precious in einem verzweifelten Moment auf ihr Schulheft. Für die behutsame Erzählweise ist dies geradezu beispielhaft. An einem vermeintlichen Tiefpunkt ihrer Entwicklung erkennt sich das Mädchen erstmals als eigenständiges Subjekt in einer anders wahrgenommenen Umgebung. Die Buchstaben, in dem verspielt ihren Analphabetismus aufgreifenden Vorspann noch wild verstreut, fügen sich endlich zusammen. Die Entdeckung der Sprache markiert den Beginn eines neuen Selbstbewusstseins und damit verbunden die endgültige Ablösung von der Mutter.

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