Als Mika den Spielplatz betritt, sieht er sofort, dass etwas nicht stimmt. Das Fußballfeld, das seine Klassenkameraden provisorisch mit ihren Schultaschen abgesteckt haben, ist vollkommen schief! Wir sehen Mikas kritischen Gesichtsausdruck in einer nahen Kameraeinstellung (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen). In einem Gegenschnitt folgt eine Totale des Spielplatzes, die Kamera bewegt sich im Zum Inhalt: Zeitraffer in die Vogelperspektive (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven, Linien und Winkel werden in das Bild eingeblendet und beschriftet. Jetzt ist es auch für das Kinopublikum eindeutig: Anstatt zweier 90-Grad-Winkel besteht der rechte Spielfeldrand aus einem 72- und einem 108-Grad-Winkel. Das ist es also, was den zehnjährigen Jungen, der das Asperger-Syndrom und eine Begabung für Mathematik hat, so gestört hat. Selbstverständlich greift Mika ein, um dies zu korrigieren, versetzt mitten im Spiel eine Tasche – und bekommt sofort mächtig Ärger, weil dadurch plötzlich ein Tor nicht mehr gewertet wird.

Mit den Augen von Mika

Mikas Welt ist anders. Er nimmt Dinge wahr, die andere nicht sehen – und schon zu Beginn von Zum Filmarchiv: "Das Pferd auf dem Balkon" (Hüseyin Tabak, AT 2012) macht die Zum Inhalt: Inszenierung dies spielerisch und humorvoll deutlich, indem sie die Grenzen der normalen Wahrnehmung sprengt und den Zuschauenden durch eine kurze Zum Inhalt: Animation eine kommentierte Sicht von Mikas Gedanken zeigt. In mehreren Zum Inhalt: Szenen wechselt der Film fließend direkt in Mikas Perspektive und zeigt mithilfe einer Zum Inhalt: subjektiven Kamera, was dieser sieht. Wenn die Bilder etwa bei einem Spaziergang von Mika durch die Wiener Innenstadt plötzlich verschwimmen oder stark verwackelt sind und auf der Tonebene allerlei Geräusche zu einem diffusen Brei verschmelzen, der sinnentleert und zudem beängstigend wirkt, dann imitieren Kamera und Ton stellvertretend die Eindrücke des Jungen. Die Reizüberflutung überträgt sich unmittelbar auf das Publikum.

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Beim Wort genommen

Andererseits verdeutlicht die Inszenierung durch die Zum Inhalt: Montage auch, welche Schwierigkeiten Mika damit hat, Ironie, Doppeldeutigkeiten und Witze zu verstehen. Was auch immer gesagt wird, Mika nimmt seine Gesprächspartner/-innen stets beim Wort. Als Dana ihm etwa bei ihrer ersten Begegnung erzählt, sie sei die Tochter eines Maharadschas, wechselt der Film durch einen harten Schnitt in Mikas Fantasie und zeigt, Dana in traditioneller indischer Kleidung auf goldenen Kissen in einem Palast sitzend. So stellt sich Mika eine indische Prinzessin vor. Und doch entlarvt der Film – wenn auch nicht für den Jungen, so doch zumindest für die Zuschauenden – diese Aussage als Räuberpistole, indem die Fantasie-Dana einmal deutlich in die Kamera zwinkert. Ebenso verhält es sich, als Sascha behauptet, er esse alles. Alles, das bedeutet für Mika ganz wortwörtlich: Sascha würde auch Schuhe essen, wenn man sie ihm servieren würde. Und in seiner Fantasie tut Sascha genau das: Nach einem Schnitt sitzt Sascha in einem Restaurant und beginnt – ganz im Sinne von Charlie Chaplin in Zum Filmarchiv: "Goldrausch" ("The Gold Rush" , Charles Chaplin, USA 1925) – einen Stiefel mit Messer und Gabel zu verspeisen. Die Montage stellt so Mikas Fantasiewelt und die Realität direkt in Verbindung, macht den Wechsel der Ebenen durch absurde Überhöhungen oder leuchtende Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) erkennbar, die sich deutlich von Mikas tristem Alltag abheben, und bezieht daraus ihre Komik.

Mika und das Asperger-Syndrom

Informationen über das Asperger-Syndrom – eine angeborene tiefgreifende Entwicklungsstörung mit austistischen Zügen, die die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt und Auswirkungen auf die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen hat – fließen in "Das Pferd auf dem Balkon" unterdessen durch Mikas Zum Inhalt: Voiceover-Kommentar oder Dialoge über die sprachliche Ebene ein. Gerade zu Beginn des Films vermittelt etwa ein Gespräch zwischen den Kindern, womit Mika als Asperger-Kind Schwierigkeiten hat. Er erklärt, dass er keine Witze mag (weil er Ironie nicht versteht) und Lügen hasst (weil diese eben nicht das wiedergeben, was er sieht). Außerdem kann er die Gesichtsausdrücke seiner Mitmenschen nicht einordnen und mag es auch nicht, wenn ihm jemand zu nahe kommt.

Schwierigkeiten, Regeln und Rituale

Was Mika braucht, sind feste Regeln und Rituale. Sie helfen ihm dabei, seine Umwelt zu verstehen und geben ihm Sicherheit. Daher rührt seine Begabung für Mathematik, die sich durch Logik und Gesetze auszeichnet und in der nichts interpretiert werden muss. Andererseits will Mika diese starren Strukturen auch auf seinen Alltag übertragen wissen. Um Punkt 14:17 Uhr muss das Essen auf dem Tisch stehen – und dabei darf sich die Tomatensauce auf gar keinen Fall mit den Nudeln vermischen. Ebenso wichtig ist es ihm, freitags Pfannkuchen zu essen. Abweichungen von diesen Regeln verwirren Mika und lösen auch mal heftige Wutausbrüche in ihm aus.

Ein bisschen mehr anders

"Jeder Mensch ist anders als die anderen. Da ist es doch egal, wenn manche Menschen ein bisschen mehr anders sind." Mit diesen Worten stellt Mika sich in der ersten Szene von "Das Pferd auf dem Balkon" dem Publikum vor – und verdeutlicht damit zugleich, wie er selbst seine Rolle in der Gesellschaft sieht. Mika weiß, dass andere ihn für seltsam halten, weil er sich nicht so wie sie verhalten kann. Und doch ist Mika auch sehr selbstbewusst und sieht in seinem Anderssein eine Auszeichnung. So bringt der Film von Anfang an seine Botschaft auf den Punkt: Nicht um das Normal-Sein geht es, sondern darum, sich vorurteilsfrei, aufgeschlossen und sensibel auf seine Mitmenschen und deren Besonderheiten einzulassen. Ob das nun ein Kind mit Asperger-Syndrom, eine alleinerziehende Mutter, ein Spieler, ein selbstbewusstes Mädchen aus einer Migrantenfamilie oder eine alte Frau ist, spielt dabei keine Rolle. "Das Pferd auf dem Balkon" erzählt auf sympathische Art von Menschen, die oft als Außenseiter/innen wahrgenommen und ausgegrenzt werden. Dabei zeigt der Film ihre Eigenheiten als Stärken und widersetzt sich so angenehm einem starr gefassten Begriff der scheinbaren Normalität.

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