Weit oben am strahlend blauen Himmel ziehen kreischend ein paar Möwen ihre Kreise. Unten auf der Brücke über den Zuggleisen steht Bailey und filmt mit ihrem Smartphone durch die Absperrgitter hindurch. Zuhause wird sich die 12-jährige Aufnahmen wie diese immer wieder anschauen. Sie bieten Zuflucht inmitten ihrer wenig poetischen Welt. Zusammen mit ihrem Vater Bug und ihrem älteren Halbbruder Hunter lebt sie in einem besetzten Haus in einer Kleinstadt am äußersten Rand Londons (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set). Überfordert hat Baileys Mutter Peyton die Erziehung dem Vater überlassen und lebt mit den drei jüngeren Halbgeschwistern umgeben von Drogen und Gewalt. Bug ist meist mit sich selbst beschäftigt. Sein neustes Projekt ist eine halluzinogene Drogenkröte, die ihm endlich Reichtum bringen soll. Dass er seine neue Freundin heiraten will, ohne Bailey gefragt zu haben, hilft dem ohnehin schon explosiven Vater-Tochter-Verhältnis wenig. Aufschauen kann sie nur zu Hunter und seinen Freunden, die mit ihrer "Nachbarschaftswache" auf brutale Weise Selbstjustiz üben.

Und dann trifft Bailey auf Bird. So nennt sich der kauzige Mann, der ihr wie aus dem Nichts auf einer der Wiesen rund um die Siedlung entgegentanzt. Mit seiner fast kindlichen Zutraulichkeit ist er ein Fremdkörper in Baileys rauer Welt – und Bailey sofort fasziniert von ihm. Behutsam entwickeln sie eine besondere Bindung zueinander.

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"Geboren, um Ärger zu machen"

Wie auch in ihren früheren Werken Zum Filmarchiv: "Fish Tank" (GB 2009) und Zum Filmarchiv: "American Honey" (GB/USA 2016) beschäftigt sich die britische Regisseurin Andrea Arnold in "Bird" mit dem weiblichen Aufwachsen in prekären Verhältnissen. In Bailey vereinen sich dabei viele Aspekte aus Arnolds eigenem Leben: Auch Arnolds Eltern waren noch Jugendliche, als sie geboren wurde. Sie wuchs als ältestes von vier Geschwistern im Sozialbau in derselben Gegend auf, allein von ihrer Mutter erzogen. Wie Bailey verbrachte sie viel Zeit draußen und fand im Film eine neue Ausdrucksform. Den unbändigen Zorn, den Bailey aufgrund der Ungerechtigkeiten ihrer Welt empfindet, erzählt sie daher ebenso authentisch wie Herausforderungen der Adoleszenz, darunter die Suche nach Zugehörigkeit oder die erste Menstruation.

In einer Umgebung, in der es besser ist, Ärger zu machen, als Ärger zu bekommen, hat sich Bailey eine abgeklärte, taffe Fassade zugelegt. Die filmische Zum Inhalt: Inszenierung betont dagegen ihre verträumte und sensible Seite. Die Handkamera folgt ihr auf Augenhöhe und in nahen Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen). Immer wieder nimmt sie Baileys Perspektive ein, wenn sie Tiere beobachtet, sich in der Wiese liegend davonträumt oder kleine Details mit dem Smartphone filmt. Die Untermalung dieser Zum Inhalt: Szenen mit den elektronisch-transzendenten Klängen des Musikers Burial wirken dabei ebenso poetisch, wie der stets sichtbare, ausgefranste Bildrand und die geringe Tiefenschärfe des auf analogem Zum Inhalt: 16mm gedrehten Films. Sie kontrastieren die sonst sozialrealistisch erzählte Welt, in der graue und allzu grelle Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) ein Gefühl der Tristesse vermitteln.

"Ist es zu echt für euch?"

In dieser Welt spielt auch die diegetische Musik (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) eine zentrale Rolle, die vor allem Bug ständig hört. Der Soundtrack bestehend aus Bands wie Sleaford Mods, Blur, The Verve, Rednex und Coldplay verweist auf seine Jugendzeit als Millennial. Mitgesungene Textzeilen wirken wie Kommentare auf die Handlung. "Is it too real for you?" ruft Bug den Passant/-innen und symbolisch auch dem Publikum zu, als er auf seinem E-Roller mit aufgedrehter Musikbox und zu einem Song von Fontaines D.C. durch die beschauliche Fußgängerzone der Stadt rast. Die ungeschönte Darstellung dieser Lebensrealitäten ist für außenstehende Zuschauer/-innen tatsächlich schwer nachzuvollziehen, die in anderen Szenen gezeigte Gewalt mitunter schwer zu ertragen.

Womöglich auch deshalb nutzt die Regisseurin Elemente des magischen Realismus. Es ist offensichtlich, dass Bird nicht aus dieser Welt kommt, auch wenn er behauptet, in der Hochhaussiedlung geboren zu sein. In einigen Momenten ist unklar, welche Magie von Bird ausgeht oder ob Bailey selbst übernatürliche Fähigkeiten entwickelt. Fast könnte man ihn als Baileys Fantasiefreund begreifen – wären da nicht die realen Auswirkungen seiner Handlungen.

"Mach dir keine Sorgen!"

So wie Birds Anwesenheit Bailey beruhigt und ihr Halt gibt, so beruhigen sich auch die Szenen. Die Schnittfolgen (Glossar: Zum Inhalt: Montage) und Zum Inhalt: Kamerabewegungen verlangsamen sich, die Umgebungsgeräusche (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) nehmen ab. Die gemeinsame Suche nach Birds Eltern gibt Bailey eine gewisse Tagesstruktur, sein Auftreten in bedrohlichen Situationen bietet ihr Schutz, seine Unterstützung in der Betreuung ihrer Geschwister Sicherheit. Mit Bird an ihrer Seite wächst Bailey über sich hinaus – das muss besonders Skate, Peytons neuer Freund erfahren, der Mutter und Geschwister terrorisiert.

"Don’t you worry" – dieser Spruch begegnet Bailey immer wieder. Ganz verinnerlicht hat sie ihn am Filmende wohl noch nicht. Die Begegnung mit Bird ermöglicht ihr jedoch, Vertrauen in sich selbst und in andere zu entwickeln und ein Gefühl von Familie zu erfahren. Sie hat nun das Potenzial, selbst für andere ein Bird zu werden.

Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.

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