Florence Miailhe, geboren 1956, arbeitete nach ihrer Ausbildung an der Pariser Ecole Nationale Supérieure des Arts Décoratifs zunächst als Grafikerin, bevor sie 1991 ihren ersten Kurzfilm "Hammam" realisierte. Für ihre mehrfach prämierten Zum Inhalt: Animationsfilme nutzt sie Ölfarben, Pastellkreiden oder auch Sand, die sie direkt unter der Kamera und in Schichten aufträgt. Dabei arbeitet sie regelmäßig mit der Schriftstellerin Marie Desplechin zusammen, so auch für ihren Zum Inhalt: Spielfilm Zum Filmarchiv: "Die Odyssee".

kinofenster.de: Der derzeitige Krieg in der Ukraine hallt auf bittere Weise in Ihrem Film wider. Menschen auf der Flucht prägen mehr denn je unser kollektives Bewusstsein. Hätten Sie gedacht, so schnell von der Geschichte eingeholt zu werden?

Florence Miailhe: Als wir an unserem Film arbeiteten, waren Migrationsbewegungen im Afrika südlich der Sahara ein Thema, dann auch jene in Folge des arabischen Frühlings und des Kriegs in Syrien. Dass heute Menschen aus der Ukraine flüchten, schließt den Kreis zu unserem Filmanfang. Meine Urgroßeltern sind 1905 vor den Judenpogromen aus Odessa geflüchtet. In dieser Zeit beginnt auch Kyonas Geschichte, die auf ihrer Flucht die Jahrzehnte durchreist. Eigentlich sollte das Filmende die Öffnung auf eine bessere Zukunft sein. Aber nein: Dass sich der Exodus, wie er sich heute in der Ukraine abspielt, wiederholen könnte, das hätte ich mir nie vorstellen können.

kinofenster.de: Wie die Zeit bleibt auch der Ort der Filmhandlung unbestimmt. Kyonas fiktives Heimatdorf Novi Varna hört sich slawisch an. Sie überquert das "Wasser", das aussieht wie das Mittelmeer, und scheint von Ost nach West und von Süd nach Nord zu reisen. Aber der Film legt sich nicht fest.

Florence Miailhe: Ursprünglich hatte ich eine zeitgeschichtlich verankerte Geschichte im Kopf. Meine Co-Autorin (Glossar: Zum Inhalt: Drehbuch) Marie Desplechin und ich haben uns dann für eine zeitlose Traumwelt entschieden. Uns interessierten die Gemeinsamkeiten zwischen den großen Migrationsbewegungen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir wollten all diese Exilgeschichten miteinander verbinden. Es gab schon immer Menschen, die auf die andere Seite der Berge schauen wollten, in der Hoffnung, dort ein besseres und friedvolleres Leben zu führen.

kinofenster.de: Das Ziel von Kyonas Reise heißt verheißungsvoll Arkata, fast wie das unerreichbare Arkadien aus der griechischen Mythologie. Was hoffen Kyona und ihr Bruder dort zu finden?

Florence Miailhe: Das stimmt, dieses Paradies gibt es vielleicht gar nicht, oder man kommt nie dort an. Wir wollten vielmehr auf unterschiedlichen Ebenen von der Reise erzählen: die Reise durch Zeiten und Räume, aber auch die Reise des Erwachsenwerdens für Kyona und ihren Bruder. Arkata bleibt unerreichbar. Es ist der Weg dorthin, der sie prägt.

kinofenster.de: Im Film gibt es viele Anleihen aus der Märchenwelt. Vögel spielen eine wichtige Rolle. Eine Elster begleitet Kyona wie ein Schutzengel auf ihrer Reise.

Florence Miailhe: Im Märchen helfen oft Tiere den Menschen im Gegenzug für eine gute Tat. Die Elster ist auch ein Symbol für die Freiheit und eine Erinnerung, die Kyona aus Heimat und Kindheit mitnimmt. Durch das Märchenhafte des Films konnten wir auf symbolische Weise von den Prüfungen erzählen, die Kyona bestehen muss. Und wir konnten damit eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart schlagen. Zunächst hatten wir den “kleinen Däumling“ im Kopf: Die Hungersnot zwingt die Eltern, ihre Kinder im Wald auszusetzen und zu hoffen, dass sie allein besser zurechtkommen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs haben viele Eltern ihre Kinder allein losgeschickt, um sie vor der Deportation zu bewahren. Die Idee des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings hat sich dann während des Schreibens immer mehr verfestigt.

kinofenster.de: Ihre Mutter wurde bei der Invasion Frankreichs durch die Nationalsozialist/-innen auch von ihren Eltern auf die Flucht geschickt. Es gibt die Fluchtgeschichte ihrer Urgroßeltern aus Odessa. Sie selbst sprechen in der französischen Filmfassung den Zum Inhalt: Voiceover der erwachsenen Kyona. Wie viel Persönliches steckt im Film?

Florence Miailhe: Es ist weder hundertprozentig die Geschichte meiner Urgroßmutter noch meiner Mutter noch von mir. Es ist die Weitergabe von Geschichten und Lebenserfahrungen innerhalb der Familie. Im Malatelier am Anfang des Films sind Bilder meiner Mutter zu sehen, die selbst Malerin war. Kyonas Zeichenheft setzt sich aus Werken meiner Mutter zusammen, die sie als 16- bis 20-Jährige zwischen 1936 und 1940 gemalt hat. Ich habe sie so zusammengestellt, dass sich in Kyonas fiktiver Geschichte die Lebensgeschichte meiner Mutter spiegelt. Trotz allen Widrigkeiten wird Kyona am Ende ihr Leben gemeistert und ihren Traum verwirklicht haben, wie es auch meiner Mutter gelang.

kinofenster.de: Die Weitergabe von einer Generation zur nächsten findet in Ihrer Familie nicht nur auf der Ebene der Geschichte statt, sondern auch auf der des Ausdrucksmittels. Sie haben den Film vor allem gemalt.

Florence Miailhe: Ich spreche gerne von "animierter Malerei". Anders als im klassischen Zum Inhalt: Zeichentrick wird nicht mit kolorierten Zeichnungen, sondern mit auf Glasplatten gemalten Bildern gearbeitet, direkt unter der Kamera. Die Bewegung von Figuren und Farben entsteht chronologisch von einer Aufnahme zur nächsten. Die Bilder erscheinen und vergehen wieder, werden durch neue ersetzt, als wären sie Lebewesen. Das füllt auch den Film mit Leben und gibt ihm eine eigene, sehr handwerkliche, Existenzgeschichte.

kinofenster.de: Eine besondere Rolle spielen die Farben im Film.

Florence Miailhe: Die Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) waren uns von Anfang an wichtig. Der Film sollte ein zusammenhängendes Farbuniversum sein, jedes Land seine eigene farbliche Stimmung haben. Auf einem 100 Meter langen Papierstreifen habe ich ein Modell des Films entworfen, um die Farbgebung der einzelnen Kapitel aufeinander abzustimmen: die freundliche Frühlingsidylle am Anfang, der Pogrom in Schwarz, die fremde Stadt in Rot. Der Farbwechsel bedeutet immer auch einen Jahreszeitenwechsel, vom Frühling bis zum Sommer ein Jahr später.

kinofenster.de: Lassen sich mit den bunten Farben die Schrecken mildern, denen sich die Figuren des Films ausgesetzt sehen?

Florence Miailhe: Ein Film wie "Die Odyssee" kann die Barbarei nicht verhindern. Aber er bietet die Möglichkeit, mit Kindern über schwierige Themen zu sprechen. Kinder bekommen mit, was gerade in der Ukraine passiert, und sie haben Angst. Da bietet mein Film die Möglichkeit, wie im Märchen über die symbolische Ebene einen anderen Zugang zu finden, mit einer Art Sicherheitsventil. Die Kinder werden nicht direkt mit der Grausamkeit der Welt konfrontiert, aber der Film beschönigt auch nichts.

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