Die zwölfjährige Gelsomina lebt mit ihren Eltern, ihren drei jüngeren Schwestern und Cocò, einer langjährigen Freundin der Familie, auf einem alten Bauernhof im ländlichen Norden Italiens. Die gesellschaftliche Stagnation ist spürbar, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft hat sich in der politischen Radikalisierung der Elterngeneration erschöpft. Nun kämpft das auf die erweiterte Kleinfamilie geschrumpfte Überbleibsel eines Kommunenmodells mit seiner Imkerei um das wirtschaftliche Überleben. "Land der Wunder" ist ein Film über Aufbrüche: Vater Wolfgang und Mutter Angelica sind vor Jahren aus Überdruss und Frustration aus der städtischen Zivilisation geflohen, jetzt steht aufgrund finanzieller Probleme und einer neuen EU-Richtlinie zur Honigproduktion die Existenz des Hofs auf dem Spiel. Wolfgang will den Status quo aufrechterhalten, doch Gelsomina, der Liebling des Vaters, beginnt sich mit der Pubertät von familiären Zuschreibungen zu lösen. Sie könnte sich auch ein anderes Leben vorstellen.

Land der Wunder, Szene (© Delphi)

Entsprechend gegenläufig gestalten sich die Versuche zur Rettung des Familienbetriebs. Wolfgang nimmt den schwererziehbaren, beharrlich schweigenden Martin als Hilfskraft auf dem Hof auf, während Gelsomina die Familie heimlich bei der Reality-TV-Show "Land der Wunder" anmeldet, in der kostümierte Bauern ihre landwirtschaftlichen Produkte als Teil einer etruskischen Tradition vermarkten. Milly Catena, die ganz in Weiß und Silber ausstaffierte Moderatorin, halb Revue-Star, halb Märchenfee, verspricht sich bei ihrer Anmoderation: "… hier, wo Familien noch leben wie in der Vorzeit." Und trifft damit den Kern der Situation. Die gescheiterten politischen Kämpfe haben die Familie zum Rückzug in eine fast vorgesellschaftliche Situation gebracht. Der Honig ist ein mythologisch aufgeladener Stoff: Unschulds- und Fruchtbarkeitssymbol sowie Nahrung der antiken Götter. Als beim Schleudern einmal der Eimer unter der Zentrifuge vergessen wird, läuft der Honig wie zähflüssiges Gold über den Fliesenboden.

Doch langsam verliert der cholerische Familienpatriarch Wolfgang den Einfluss über "seine" Frauen (inklusive der vier Töchter). Vor allem Gelsomina beginnt die Machtverhältnisse in der Familie zu verschieben: Statt die Rolle der geduldigen Handlangerin des Vaters zu akzeptieren, zieht sie Selbstbewusstsein aus ihrer neuen Verantwortung und wird von Cocò nur halb scherzhaft als Familienoberhaupt vorgestellt. Die jüngere Marinella leidet unter dem Zerfall der geschwisterlichen Nähe, kann aber weder die Rolle der Schwester beim Vater einnehmen noch Martin beeindrucken, der nur auf Gelsomina reagiert. Wolfgang wiederum erhebt Martin in die Rolle des Kronprinzen, wobei unklar bleibt, ob er unter dem Druck des bäuerlichen Umfelds tatsächlich nach einem männlichen Hoferben sucht oder aber versucht, Gelsomina durch ein Konkurrenzverhältnis wieder stärker an sich zu binden. Eine wiederkehrende Szene beschreibt das Verhältnis von Vater und Tochter: Nach getaner Arbeit an den Bienenstöcken lässt Wolfgang sich von Gelsomina die Stacheln aus dem Rücken entfernen: ein intimer Moment, in dem das poetische Verfahren von Regisseurin Alice Rohrwacher deutlich wird. Die "Wunder" des Films sind symbolisch aufgeladene Bilder wie diese, die sich komplett aus der Realität begründen lassen und erst durch den staunenden filmischen Blick ihre fantastische Wirkung entfalten.

Schon der Name Gelsomina verweist auf die wohl berühmteste (Ersatz-)Familiengeschichte des italienischen Kinos: Federico Fellinis Zum Filmarchiv: "La Strada" von 1954. Rohrwacher setzt die Referenz dezent ein, um zentrale Momente ihrer Geschichte kontrastierend zu betonen. Auch Wolfgang ist ein Zampano, ein altlinker Macho, bei dem die Befreiungsideologie nie so ganz im Geschlechterverhältnis angekommen ist. Doch während Fellinis Hauptfigur Gelsomina daran zerbricht, dass der ältere Mann weder väterlicher Beschützer ist noch die Frau in ihr anerkennen will, schafft es ihre Namensvetterin in "Land der Wunder" , sich dank ihrer handwerklichen Fähigkeiten zu emanzipieren. Sie hat die Imkerei vom Vater gelernt, verfügt aber über eine tiefere Verbindung zu den Bienen.

Auch in seiner Beschreibung der Landschaft erinnert "Land der Wunder" an den neorealistischen Klassiker. Der Film zeigt ein gänzlich untouristisches Italien: ein einsames Bauernhaus in einer kargen Natur. Und doch kann die Stimmung jederzeit ins Zauberhafte umschlagen, dann verwandelt sich in der staubigen Scheune ein Sonnenstrahl in eine sprudelnde Lichtquelle. Der andere Ort der "Verwandlung" ist die Insel mit der etruskischen Nekropole. Durch die Inszenierung der Fernsehshow erscheint sie als verführerische Gegenwelt der Wunder und Sehnsüchte, in der alles sein Wesen verändert: Der mächtige Vater wird zum hilflosen Statisten, die passive Cocò zur gefährlichen Zauberin, und Gelsomina und Martin zu freien Menschen. Zumindest für einen kurzen Moment.

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