1986 legt Andreas Voigt mit seinem ersten Film in Leipzig den Grundstein für eine Langzeitdokumentation (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm), die Transformationsprozesse der ost- und später gesamtdeutschen Gesellschaft bis in die Gegenwart verfolgen sollte. Der Leipzig-Zyklus zeigt, wie sich große historische Ereignisse und Umbrüche in Biografien und im Alltag von Menschen in einem spezifischen zeitlichen und räumlichen Kontext niederschlagen. Das macht ihn zu einem einzigartigen künstlerischen Dokument.

Voigts Diplomfilm "Alfred" (DDR 1986) erzählt an Hand der Biografie eines Leipziger Arbeiters alle wichtigen Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vom Ersten Weltkrieg bis fast zum Ende der DDR. Dabei wird der Anarchist, Kommunist und Gewerkschafter immer wieder im Konflikt mit den herrschenden Systemen, auch der Parteiführung der DDR, gezeigt. Seine stets kämpferische Lebenshaltung konterkariert Voigt mit resignierten Aussagen junger Arbeiterinnen, die alle Träume und Erwartungen an persönliches Glück in der Tristesse eines belastenden Alltags aufgegeben haben. Kamerafahrten (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) durch die verfallende Industrielandschaft des Leipziger Westens verstärken den Eindruck von der Stagnation der späten DDR.

Bilder eines verschwindenden Staates

In "Leipzig im Herbst" (DDR 1989) werden die gesellschaftlichen Konflikte nicht nur in Bildern gezeigt, sondern offen verbalisiert. Vom 16. Oktober bis zum 6. November 1989 begleiten Andreas Voigt und Gerd Kroske mit dem Kameramann Sebastian Richter die Proteste in Leipzig. In der von der DDR-Führung schwer vernachlässigten Arbeiter- und Messestadt hatten nicht nur die Montagsdemonstrationen, die zum Ende der DDR führten, ihren Ausgang genommen. Am 9. Oktober 1989 war hier die entscheidende Wende zur friedlichen Revolution vollzogen worden, nachdem eine Allianz von Oppositionellen und Parteifunktionären die blutige Niederschlagung der Proteste verhindern konnte. Der Film fängt die Stimmung auf den Straßen unmittelbar ein, unterschiedlichste Menschen äußern offen ihre Wut und Enttäuschung, aber ebenso ihre Hoffnung auf Freiheit – die zentrale Forderung der Demonstrierenden. Das Filmteam stellt sich auf deren Seite und wird als Vertreter der DEFA, der man eher als dem ideologisch belasteten DDR-Fernsehen vertraut, gleich in der ersten Szene mit Jubel begrüßt. In einer weiteren Linie rekonstruiert der Film in Interviews (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads) mit Polizeirekruten und deren Vorgesetzten die Ereignisse vom 7. bis zum 9. Oktober. Schon sieben Tage nach Drehschluss eröffnete er mit der Selbstbezeichnung "ein Material" das Dokumentarfilmfestival in Leipzig und machte dort Furore.

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Schon ab Dezember 1989 folgt Voigt weiter dem Schicksal ausgewählter Protagonistinnen und Protagonisten in Leipzig bis zum Dezember 1990. "Letztes Jahr Titanic" (DDR/DE 1989-1991) zeigt die Zeit der Währungsunion und der Wiedervereinigung als karnevalesken Tanz auf dem "sinkenden Schiff" – zutiefst verunsicherte Menschen in einem sich in Auflösung befindlichen Land: ein Kneipier-Ehepaar vor der Umsiedlung nach Bayern, die Punkerin Isabel und die Journalistin Renate. Durch Renates sehr persönliche Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) der Stasi wird das Thema Diktatur-Aufarbeitung vielschichtig angelegt.

Brüchige Biografien und die Konflikte der Nachwendezeit

"Glaube Liebe Hoffnung" von 1993 ist der umstrittenste und härteste Film des Zyklus. Angesichts der gerade in Ostdeutschland Anfang der 1990er-Jahre grassierenden rechtsextremen Gewalt porträtiert er drei Leipziger Jugendliche und ihr Umfeld. Sven ("Papa"), Dirk und André werden in längeren Interviewpassagen zu ihrer Weltsicht, ihren Träumen, Gefühlen und Kindheitserinnerungen befragt. Ihre dabei geäußerten, teilweise offen rechtsextremistischen Ansichten nimmt Voigt nicht unwidersprochen hin, sondern konfrontiert sie mit Gegenargumenten. Indem er die Jugendlichen aber mit Respekt behandelt und Vertrauen die Grundlage der Gespräche bildet, gelingen Einblicke in gescheiterte Biografien voll familiärer Gewalt und Vernachlässigung.

Zugleich begleitet Voigt sie im alltäglichen Kampf um Arbeit und Auskommen. Es wird deutlich, dass ihr offensiv maskuliner und aggressiver Habitus mit dem Gefühl, auf der sozialen Skala ganz unten zu stehen, korrespondiert. Die so entstehenden Psychogramme montiert Voigt mit Bildern einer Stadt zwischen Abbruch und Neuaufbau, resignierter Armut und Hochglanz-Konsumwelt. Markant ist hier besonders die Figur des westdeutschen Investors Dr. Schneider, der die Ostdeutschen großspurig über den Kapitalismus belehrt, den Film später per einstweiliger Verfügung zu verbieten versuchte und dann als Betrüger entlarvt wurde. "Glaube Liebe Hoffnung" (DE 1992-1994) ist ein bis heute beeindruckendes Dokument der Hintergründe und Motivationen rechtsextremer Gewalt. Obwohl Voigt dafür zeitweilig der "Volksverhetzung" angeklagt war, verstand die Mehrheit der Zuschauer/-innen, dass die Stärke des Films gerade in der Aufhebung der gefährlich vereinfachenden Opfer-Täter-Dichotomie liegt.

Lebensläufe zwischen Ost und West

"Große weite Welt" kehrt 1996 zu Sven und einigen Protagonistinnen aus "Letztes Jahr Titanic" , unter anderem zu Isabel und Renate, zurück und konstatiert das Ankommen der Ostdeutschen in einer ernüchternden Realität. Aus den öffentlichen Plätzen und Fabriken der ersten Filme hat man sich erschöpft ins Private der Gartenlaube, des Autos, der Wohnung zurückgezogen. Aus dem Aufbruch der Wendezeit wurden zunehmende Vereinzelung und eine spürbare Entpolitisierung.

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"Alles andere zeigt die Zeit" schlägt 2015 schließlich, fast 25 Jahre nach der friedlichen Revolution, anhand der Biografien von Sven, Isabel und Renate den Bogen von der DDR über den Herbst 1989 und die Deutsche Einheit bis in die Gegenwart. Sven kämpft nach einer gescheiterten Beziehung, mehreren Vorstrafen und einem "Totalzusammenbruch" zum wiederholten Mal um einen beruflichen Neustart in Westdeutschland. Aus der Punkerin Isabel ist eine erfolgreiche Insolvenzverwalterin geworden, die schwäbische Betriebe abwickelt und Schuldner berät. Von besonderer Tragik ist die Geschichte von Renate, die nach Offenlegung ihrer IM-Vergangenheit nie wieder beruflich Fuß fassen konnte und schließlich Suizid beging. Ihre Tochter Jenny begibt sich durch das Studium von Akten auf die Spuren ihrer Mutter und lotet im Gespräch mit dem Regisseur die Folgen der DDR-Vergangenheit für die nachgeborene Generation aus.

Korrektiv zur westdeutschen Wende-Erzählung

Noch deutlicher als in den vorangegangenen Filmen gelingt es Voigt, medial oft bemühte Kategorien wie Opfer und Täter, (Wende-)Gewinner und Verlierer zu unterlaufen. Die scheinbare "Gewinnerin" Isabel wird in ihrer Einsamkeit gezeigt, während die "gescheiterte Existenz" Sven am Ende einen Neuanfang in Leipzig schafft. Die Beschreibung einer komplexen Realität und die Verknüpfung der verschiedenen Zeitebenen ist vor allem ein Verdienst der subtilen Montage, für die Voigt mit Kathrin Dietzel eine Editorin wählte, die sich das ausufernde Material aus drei Jahrzehnten mit dem unbelasteten Blick einer jüngeren Generation erschließen konnte. Die Erzählung folgt dabei keiner Chronologie, sondern thematischen Linien. Nur wenn es sich nicht aus den Bildern erzählt, werden Jahreszahlen eingeblendet (Glossar: Zum Inhalt: Insert). Indem Material aus allen bisherigen Leipzig-Filmen einfließt, setzt "Alles andere zeigt die Zeit" die bundesdeutsche Gegenwart immer wieder in Bezug zur DDR und vor allem zu den Zielen und Träumen der friedlichen Revolution. Dabei ergeben sich mitunter deutliche Kontraste, etwa wenn eine Fahrt im teuren Cabrio von heute und die Forderungen der Demonstrierenden von 1989 wie ein Kommentar montiert werden.

Auch wenn die einzelnen Filme thematisch recht unterschiedlich sind, vereint "Alles andere zeigt die Zeit" die wesentlichen stilistischen Merkmale der Reihe: Neben den eingreifenden Fragen des Regisseurs ist es vor allem die sich stets in respektvoller Distanz befindliche, aber soziale Details genau erfassende Kameraarbeit von Sebastian Richter. Strukturgebend ist das wiederkehrende Motiv der Bewegung: der Zug, der durch den verfallenen Leipziger Westen fährt (zunächst in Schwarz-Weiß, später in Farbe; Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung), Renate in der Straßenbahn, in der zwanzig Jahre später ihre Tochter fährt, Isabel im schnellen Auto und Sven, humpelnd auf Krücken und über seinem Kopf die Wuppertaler Schwebebahn. Oft erzählen die Umgebungen, durch die sich die Protagonisten bewegen, den sozialen und historischen Kontext, und mitunter kommentieren die Fahrtbilder aus verschiedenen Jahrzehnten das auf der Tonspur (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) Gesagte. So wird der Film auch zu einer Fahrt durch die Zeit – und zum differenzierten Korrektiv der mehrheitlich westdeutsch dominierten Wende-Erzählung.

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