1978 hört der damals 14-jährige Dieter "Otze" Ehrlich das erste Mal die Radiosendung des britischen Moderators und Redakteurs John Peel, der Punk-Bands wie die Sex Pistols, Ramones oder Sham 69 spielt. Otze sprechen die direkten Botschaften, die Aufbegehren und Anarchie als Ideal vermitteln, unmittelbar an. Mit seinem Bruder Klaus gründet er im Heimatdorf Stotternheim bei Erfurt die Band Schleimkeim. Galt Punk in Großbritannien und in der Bundesrepublik ohnehin schon als subversiv, entfaltete die Subkultur in der DDR noch einmal eine andere Wirkung: In einem Land, das bedingungslose staatsbürgerliche Loyalität und bereits von Kindern und Jugendlichen in Massenorganisationen wie den Jungen Pionieren oder der Freien Deutschen Jugend Uniformität verlangte, gerieten Punks immer wieder in Konflikt mit der Volkspolizei oder der Staatsicherheit. Die Repressionen nahmen zu, nachdem Schleimkeim 1983 unter dem Pseudonym Saukerle die Platte DDR von unten in West-Berlin veröffentlichten. Der Fall der Mauer im Jahr 1989 und die spätere Wiedervereinigung kamen für Otze rückblickend zu spät: Seinen exzessiven Alkoholkonsum ergänzten nunmehr auch harte Drogen. 1999 erschlug Otze seinen Vater mit einer Axt. Sechs Jahre später erlag der damals 41-Jährige in der Psychiatrie einem Herzinfarkt.

Der 1991 in Baden-Württemberg geborene Regisseur Jan Heck hat mit DDR-Punk biografisch keine Berührungspunkte. Eine Parallele zu Otze gibt es jedoch: Auch er entdeckte im Alter von 14 Jahren den Punk für sich – mit Schleimkeim als Lieblingsband. In der Anfangssequenz seines ersten Zum Inhalt: Dokumentarfilms "Schleimkeim – Otze und die DDR von unten" führt er mit kontrastreichen Ausschnitten aus DDR-Nachrichtensendungen und Filmen wie "Zum externen Inhalt: flüstern & Schreien (öffnet im neuen Tab)" in den Widerspruch von Ideal und Alltag in der DDR ein, den er in seinem Zum Inhalt: Voiceover pointiert und humorvoll erklärt. Für sein vielschichtiges Porträt Zum Inhalt: montiert Heck Interviewpassagen, die er mit Freunden und Weggefährten Otzes geführt hat, mit privaten Videoaufnahmen und Fotos der Band bei Proben oder Live-Auftritten. Die Kombination aus Zeitzeugengesprächen und Originalmaterialien vermittelt eindrücklich den Werdegang der berühmten Thüringer Punkband und ihres außergewöhnlichen Frontmanns vor dem Hintergrund der DDR-Alltagskultur der 1980er-Jahre. Was hingegen außen vor bleibt, ist ein verklärender Blick auf Otze oder die Jugendopposition in einer Diktatur. Im Gegenteil, vermeintliche Widersprüche – einerseits Protagonist der DDR-Punkszene, andererseits nachweislich Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit – werden faktisch erzählt, ohne abschließende Erklärungsansätze oder Einordnungen für die Zuschauenden anzubieten.

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Die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Individuum und Gesellschaft könnte in den Gesellschaftswissenschaften eine erste Annäherung darstellen, die anschließend mit der Analyse staatlicher Strategien vertieft wird: Neben Restriktionen wie Platzverweisen, "Berlin-Verbot" oder kurzzeitiger Untersuchungshaft ging die Volkspolizei anfänglich gegen "negativ-dekadente Individuen" – so der Behördenterminus – vor. Später setzte die Staatsicherheit auf Unterwanderung der Szene durch Informelle Mitarbeitende. Deren differenzierte Betrachtung könnte ebenfalls einen Unterrichtsgegenstand darstellen. In Deutsch liegt die Untersuchung der Texte von DDR- und westdeutschen Punkbands nahe. Ebenso könnten beispielsweise in Musik die Geschichte der Punkbewegung oder die Produktions- und Distributionsformen von autark agierenden DDR-Bands thematisiert werden. Denn anders als in Westeuropa und den USA gab es hier keine unabhängigen Plattenfirmen. Stattdessen setzten die Musiker/-innen auf die Verbreitung von selbst aufgenommenen und kopierten Kassetten. So spielte lange Zeit das in den 1970er-Jahren aufkommende Punk-Credo Do-It-Yourself (DIY) in der DDR eine bedeutende Rolle.

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