Im Lockdown im Frühjahr 2020 begann die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher, die in Quattro Strade in Umbrien auf dem Land lebt, eher ungeplant, einen dokumentarischen (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm) Zum Inhalt: Kurzfilm zu drehen. Sie fand in ihrem Haus eine Zum Inhalt: 16-mm-Kamera mit einem Zoomobjektiv (Glossar: Zum Inhalt: Zoom) und zwei abgelaufene Rollen Filmmaterial. Rohrwacher reizte es, die für heutige Zeiten altmodische Technik auszuprobieren und wanderte mit der Kamera in alle Himmelsrichtungen, um ihre Nachbarn zu besuchen. Dabei sollte die Filmlinse sich ihnen nähern, weil es ihr selbst physisch aufgrund der Corona-Auflagen nicht möglich war, wie sie sagt. So entstanden tagebuchartige Studien von Enza und ihrem Schäferhund, Claudio und seinem selbstgebauten Häuschen und einer Familie, die auf einem Bauernhof mit Katzen und Pferden lebt.

Die Aufnahmen, die wie aus der Zeit gefallen wirken mit ihren ausgefransten Rändern, Fusseln, Farbfehlern (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) und Unschärfen (Glossar: Zum Inhalt: Tiefenschärfe/Schärfentiefe), strahlen Poesie und Zugewandtheit aus: Die Kamera scheint ihr Gegenüber intuitiv abzutasten, sich ihm vorsichtig zu nähern. Rohrwacher erzählte in einem Interview, dass sie das belichtete Filmmaterial fast vergessen hatte, es dann aber entwickeln ließ und in der Rückschau in den gefilmten Miniaturen eine Geschichte sah. Die Idee, einen Kurzfilm aus dem Material zu schneiden, sei ihr erst im Nachhinein gekommen. Insofern arbeitete die Regisseurin gewissermaßen mit (wieder-)gefundenem Material, aus dem sie eine Dramaturgie entwickelte. Die Handlung erzählt sie aus ihrer persönlichen Perspektive, mit ihrer eigenen Stimme als Zum Inhalt: Voiceover. Da die Kamera keine Tonaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) zuließ und die Regisseurin auch kein externes Aufnahmegerät verwendete, sieht man die Protagonist/-innen im Film zwar sprechen, hört sie aber nicht. Sie kommen nicht selbst zu Wort, sondern werden von Rohrwacher aus ihrer Wahrnehmung heraus beschrieben. Es entstand eine Hommage an die Stärken und Fähigkeiten ihrer Nachbar/-innen, wobei der Einsatz von Zum Inhalt: Filmmusik, das Tempo und die nostalgische Stimmung des Films maßgeblich prägt.

Rohrwacher sagt, die Corona-Pandemie habe uns gezwungen, ähnlich wie Bäume mit erhobenem Kopf an einem Ort zu stehen, uns auf unser näheres Umfeld zu konzentrieren und damit einer Situation zu trotzen, der wir nicht entkommen konnten. Dabei mussten wir uns fragen, was wir daraus lernen können. Diese Überlegungen lohnt es sich in Ethik, Sozialkunde und Gesellschaftskunde zu erörtern und die Schüler/-innen anzuregen, über ihre eigenen Erfahrungen in der Lockdownzeit zu reflektieren. Der autobiografische Ansatz des Films bietet zudem die Möglichkeit, sich im Kunstunterricht mit der filmischen und fotografischen Darstellung von Menschen zu befassen. Rohrwacher hat bisher kaum dokumentarisch gearbeitet, weil sie immer das Gefühl habe, sie "stehle" dabei den Menschen etwas. Wie nähert man sich also ganz subjektiv und mit echtem Interesse anderen Menschen, wie transportiert man deren Wesen in eine Aufnahme? Welche filmischen Mittel können dabei eingesetzt werden? Diese Aspekte des dokumentarischen Arbeitens könnten mit der Aufgabe verbunden werden, mit der begrenzten Bilderzahl einer Einwegkamera Mitschüler/-innen oder Freund/-innen zu "beschreiben", die man pandemiebedingt länger nicht treffen konnte. Die Fokussierung auf wenige Aufnahmen macht es notwendig, zu beobachten, Motive zu finden und sich damit auseinanderzusetzen, was genau man ausdrücken möchte. In Zeiten der Digitalisierung ist ein Bild nicht mehr an einen Materialwert geknüpft. Aber erzählen die digitalen Bilderfluten wirklich mehr als eine mit Bedacht entstandene Auswahl?

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