Nach (2012) bildet "Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin" den zweiten Teil einer Trilogie der kanadisch-deutschen Filmemacherin Alexa Karolinski über jüdisches Leben in Deutschland. Konzentrierte sich die 1984 in Berlin geborene Regisseurin, die in Berlin und Los Angeles lebt, in ihrem ersten langen Zum Inhalt: Dokumentarfilm auf ein Doppelporträt ihrer jüdischen Großmutter und deren gleichaltriger Mitbewohnerin, so weitet sich der Blick nun auf die Lebensbedingungen von Jüdinnen und Juden im heutigen Berlin. Karolinski fragt nach persönlichen Erfahrungen und geht auf Spurensuche in der deutschen Hauptstadt. Immer wieder zeigt sich dabei, dass der Holocaust, individuelle Erinnerungen und kollektives Geschichtsbewusstsein auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nachwirken – bei jüdischen Menschen ebenso wie bei nicht-jüdischen.

Der assoziativ strukturierte Filmessay ist erneut stark durch die persönliche Erfahrungswelt der Regisseurin geprägt. Den roten Faden bildet ein Gespräch, das sie aus dem Zum Inhalt: Off mit ihrer Mutter Annie Karolinski Donig führt, die gerade die Tafel für das Rosch ha-Schana-Fest (Neujahrstag) deckt, an der sich am Ende des Films viele Gäste versammeln werden. In diesem Gespräch rekapituliert die Mutter wichtige Ereignisse der Familiengeschichte. Zwischen diese narrativen Episoden reihen sich Zum Inhalt: Gesprächsaufnahmen mit Bruder, Stiefvater und Großmutter der Regisseurin sowie Freunden, Historikern und jüdischen Bekannten ein. Die Kamera beobachtet dabei stets behutsam, ohne den Befragten zu nahe zu kommen. Der ruhige Erzählrhythmus und meditative Kameraeinstellungen des Zum Inhalt: blauen Sommerhimmels über Berlin, die auch als Gliederungselemente dienen, geben dem Publikum Zeit, die Erzählungen nachklingen zu lassen.

Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin, Trailer (© Edition Salzgeber)

Der Film liefert viele Anstöße, um etwa in den Fächern Geschichte und Politik über die Traumata der Judenverfolgung durch das NS-Regime und die Spätfolgen auch für die Nachfahren zu diskutieren. So berichtet die 1933 geborene Holocaust-Überlebende Evelyn Gutman, die die letzten Kriegsmonate in einem dunklen Bunker durchgestanden hat, dass sie noch heute in jedem Zimmer abends Licht einschaltet. Der Bruder der Regisseurin besucht zwar gerne Spiele des deutschen Fußball-Nationalteams, kann aber gefühlsmäßig nicht die Nationalhymne mitsingen. Ausgehend von seinem Gespräch mit der Schwester über die eigene Identität kann im Unterricht erörtert werden, ob Jüdischsein nur eine Religion bezeichnet oder auch eine Ethnie. Thematisiert werden auch Fragen nach Praxen der Erinnerungskultur, etwa durch einen Schulklassenbesuch im Vernichtungslager Sachsenhausen: Wie kann die Erinnerung an den Holocaust an die Jugend weitergegeben werden, wenn es keine Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mehr gibt?

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