Kategorie: Filmbesprechung
"Das schweigende Klassenzimmer"
Nach dem Aufstand in Budapest in 1956 wird die Schweigeminute einer deutschen Klasse zu Symbol von politischen Ungehorsam in der DDR
Unterrichtsfächer
Thema
Stalinstadt (heute: Eisenhüttenstadt) 1956: Fünf Jahre vor dem Mauerbau sind Westreisen für DDR-Bürger/-innen noch möglich. Als sie in einem Westberliner Kino vom Aufstand der Ungarn in Budapest erfahren, sind die Abiturienten Theo und Kurt Feuer und Flamme. Zum Gedenken der Opfer organisieren sie im Unterricht eine Schweigeminute. Die spontane Aktion hat schwere Konsequenzen. Sollten sie keine "Rädelsführer" benennen, droht die Schulverwaltung den Schülerinnen und Schülern mit der Nichtzulassung zum Abitur. Handelt es sich beim Ungarnaufstand doch, nach offizieller DDR-Lesart, um den Versuch einer faschistischen Konterrevolution. Die Klasse steht vor der Entscheidung, zusammenzuhalten oder sich der Staatsmacht zu fügen.
Im Mittelpunkt des spannenden Geschichtsdramas stehen die Schüler Theo und Kurt. In ihren Familien sehen sie sich Zwängen ausgesetzt, die für die DDR-Nachkriegsgesellschaft als exemplarisch gelten können: Sieht Kurts Vater, Mitglied der SED, seine eigene Position als Stadtrat gefährdet, steht für Theos hart schuftenden Vater das Abitur und damit die Zukunft seines Sohnes auf dem Spiel. Zu einem stimmigen Figurenensemble gehören auch der naiv beschwichtigende Schuldirektor und der rabiate Volksbildungsminister Lange, der als NS-Opfer jeden Widerstand gegen den Sozialismus im Keim ersticken will. Die peinlichen Einzelverhöre, die den Klassenverband spalten sollen, bilden frühe dramatische Höhepunkte (Glossar: Zum Inhalt: Dramaturgie). Entspannung und Lebensfreude finden die Jugendlichen nur beim "alten Edgar", der in einem abgelegenen Haus sein eigenes Leben führt: Dort hören sie Nachrichten des verbotenen Westsenders RIAS Berlin, tanzen zu angesagten Schlagern und diskutieren buchstäblich um ihr Leben.
Nach realen Ereignissen und den Bucherinnerungen von Dietrich Garstka, damals als Schüler an dem Geschehen beteiligt, beschreibt der Film einen Akt politischen Ungehorsams. Damit liefert Regisseur (Glossar: Zum Inhalt: Regie) Lars Kraume nach Zum Filmarchiv: "Der Staat gegen Fritz Bauer" über die Auschwitz-Prozesse in Westdeutschland sein zweites geschichtliches Lehrstück zur deutschen Nachkriegsvergangenheit, diesmal in der DDR. Neben den historischen Eckdaten können im Geschichts-, Politik- und Ethikunterricht das Verhalten der durchaus ambivalenten Figuren und die Loyalitätskonflikte innerhalb der Klasse diskutiert werden: Staatstreue steht gegen Zivilcourage. Dabei sollten sozialistische und demokratische Werte aus ihrer Zeit heraus verstanden, anschließend aber auch unter aktuellen Gesichtspunkten erörtert werden. Wo ist Zivilcourage heutzutage nötig? Welchen ideologischen Zwängen unterwerfen wir uns im täglichen Leben? Interessante Ansätze zum Thema Medien bietet in den Fächern Deutsch und Politik die höchst unterschiedliche Berichterstattung über den Ungarnaufstand in Ost und West: Die parteiische Berichterstattung beider Seiten (inklusive westlicher "Fake News") hat auf das Handeln aller Beteiligter entscheidenden Einfluss.