Der berühmte chinesische Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei findet überraschend ästhetische Bilder (Glossar: Zum Inhalt: Bildkomposition), um in seinem monumentalen Epos "Human Flow" die weltumfassende Krisensituation zu zeichnen. Das Flüchtlingsboot auf den glitzernden Wellen wird zum Symbol der gegenwärtigen Notlage, die brennenden Ölfelder von Mossul zum Sinnbild der Apokalypse. Über ein Jahr haben zwei Dutzend Teams weltweit in Flüchtlingslagern gedreht: in halb Europa, im Sudan, in Kenia, Gaza, Bangladesch und Afghanistan, im Libanon, im Irak und in den USA – an Grenzen und Zäunen. Mehr als 65 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, es ist die größte Völkerwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Annahme Ai Weiweis, ein globales Bild dieser enorm komplexen Situation in einem zweistündigen Film darstellen zu können, sollte jedoch kritisch hinterfragt werden.

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Mit eingeblendeten Texttafeln (Glossar: Zum Inhalt: Insert) liefert der Zum Inhalt: Dokumentarfilm Hintergrundinformationen zu Konflikten auf verschiedenen Erdteilen, etwa zur Situation im Gaza-Streifen oder zur Not von Geflüchteten auf der Balkan-Route. Die knappen Texte verkürzen und vereinfachen dabei die vielschichtigen Problemlagen; unterschiedliche Fluchtursachen wie Kriege, Hungersnöte und Klimakatastrophen werden pauschal thematisiert. Die imposanten Drohnenaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) auf Menschenmassen wirken bisweilen, als blicke der Filmemacher von oben auf ein "Phänomen": Die unzähligen Flüchtlinge werden zum "Material" für die Kamera. Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass der Regisseur selbst fast durchgehend im Bild zu sehen ist und in seinem 140-minütigen Werk selten sein Smartphone oder seine Kamera zur Seite legt. Auch wenn Menschen gerade erschöpft von einem Boot taumeln: Ai Weiwei befragt und filmt sie. Er archiviert so tragische Geschichten, ohne dabei das einzelne Schicksal erfassen zu wollen oder zu können. Diese Haltung kann als eine Reaktion der Hilflosigkeit oder gar als Spiegelung der Zuschauerposition interpretiert werden: Man sieht, ist betroffen – doch was folgt daraus?

Im Ethikunterricht lässt sich darüber diskutieren, inwiefern die fast salopp wirkende Unbedarftheit, mit der sich der Regisseur (Glossar: Zum Inhalt: Regie) selbst als Protagonist einbindet, eine vertretbare Perspektive ist. Als politischer Dissident hat Ai Weiwei in China selbst Repressionen erlitten; als weltweit bekannter und geförderter Künstler blickt er im Rahmen des Films jedoch aus einer privilegierten Position auf die "Flüchtlings-Krise". Demgegenüber lässt der kurdisch-iranische Regisseur Bahman Ghobadi in Zum Filmarchiv: "Life on the Border" sieben Kinder aus Flüchtlingslagern im Irak und in Nord-Syrien selbst ihre Geschichten inszenieren (Glossar: Zum Inhalt: Mise-en-Scène/Inszenierung). Es ist immer eine Entscheidung der Regie, mit welcher Positionierung man den gefilmten Personen gegenübertritt. Die komplexen politischen Zusammenhänge – etwa von Welthandel, Hungersnöten und Flucht – sollten im Geschichts-, Politik- oder Sozialkundeunterricht am einzelnen Fall untersucht und mit weiteren Quellen vertieft werden. Die Experten-Interviews (Glossar: Zum Inhalt: Talking Heads) aus "Human Flow" bieten hingegen eine spannende Gesprächsgrundlage darüber, wie Faktenwissen medial vermittelt und konsumiert wird. Welche visuellen, auditiven und rhetorischen Gestaltungsmittel erzielen Wirkung beim Rezipienten? Wer bekommt im medialen Diskurs eine Stimme – und wer nicht?

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