Heimat Berlin

Hassan, Lial und Maradona Akkouch (Foto: GMfilms)

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Lial (19), Hassan (18) und Maradona (14) Akkouch leben mit ihrer Mutter und zwei weiteren Geschwistern in Berlin-Neukölln. Der multikulturell geprägte Bezirk hat zuletzt vor allem mit Berichten über Jugendkriminalität und –gewalt für negative Schlagzeilen gesorgt. Doch für die Akkouchs ist Berlin-Neukölln ihr Zuhause. Hier sind die Geschwister groß geworden, hier haben sie Freunde/innen gefunden. Die Familie Akkouch stammt aus dem Libanon, doch bis auf Lial sind alle Kinder in Berlin geboren. Die Geschwister sind – beinahe – ein Paradebeispiel für gelungene Integration: Lial macht eine Ausbildung, Hassan steht kurz vor dem Abitur. Auch Maradona besucht die Schule, hat dort allerdings erhebliche Probleme. Alle drei sind begabte Tänzer/innen und Musiker/innen und haben sich damit auch außerhalb Berlins einen Namen gemacht. In ihrer Freizeit engagieren sich Lial und Hassan sozial, indem sie andere Jugendliche in Breakdance unterrichten, um sie so von der Straße wegzuholen.

Leben in Unsicherheit

Behördengänge (Foto: GMfilms)

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Lial und Hassan sind es auch, die mit ihren zahlreichen Aktivitäten neben Schule und Ausbildung einen Teil des Unterhalts für die Familie verdienen und damit ein dauerhaftes Bleiberecht für ihre Familie erwirken wollen. Denn seit mehr als 18 Jahren werden die Akkouchs in Deutschland nur geduldet. Allein die beiden Ältesten haben aufgrund ihrer Schul- und Ausbildungssituation eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Familie muss ständig mit der Ausweisung rechnen, zumal sie 2003 bereits einmal in den Libanon abgeschoben wurde – in ein Land, das den Akkouchs fremd ist.

Als Migrant/in in Deutschland

Im Zentrum des Zum Inhalt: Dokumentarfilms "Neukölln Unlimited" stehen die drei Akkouch-Geschwister, die auf unterschiedliche Art mit ihren schwierigen Lebensumständen und dem Trauma der Abschiebung umgehen. Lial und Hassan widersprechen mit ihrer besonnenen und reflektierten Haltung und ihrem verantwortungsvollen Einsatz für ihre Familie völlig dem Klischee von ungebildeten Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Regisseure Agostino Imondi und Dietmar Ratsch dokumentieren in ihrem Film dennoch immer wieder die Kollision mit eben diesem Vorurteil, etwa wenn Hassan den Berliner Innensenator Ehrhard Körting bei einer öffentlichen Diskussionsrunde mit der prekären Lage seiner Familie konfrontiert.

Alltag im Ausnahmezustand

Verantwortung für die Familie (Foto: GMfilms)

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Der Film bietet intime Einblicke in den Familienalltag der Akkouchs: Lial und Hassan haben die Versorgerrolle der Eltern übernommen, denn ihre Mutter ist krank und Sozialhilfeempfängerin; der Vater lebt nicht mehr bei ihnen. Die große Verantwortung und das Gefühl, in ihrer Heimat nicht willkommen zu sein, sorgen wiederholt für Spannungen zwischen den Geschwistern, die ihre Konflikte auch vor laufender Kamera austragen. Bei dem jüngeren Maradona äußern sich die Aggressionen vor allem auf der Straße und im schulischen Umfeld. Wegen Waffenbesitzes wird er zeitweise von der Schule suspendiert und erhält Strafanzeigen, was den Aufenthalt der Familie zusätzlich gefährdet.

Bilder der Erinnerung

Erinnerung an die Abschiebung (Foto: GMfilms)

Foto: Neukölln Unlimted

Wie sich die unsicheren Lebensbedingungen auf die Familienmitglieder auswirken, zeigen eindrücklich die Zum Inhalt: Rückblenden ins Jahr 2003 zur Abschiebung in den Libanon. Diese Vergangenheitsebene gestaltete der Zeichner Benjamin Kniebe als animierten Comic (Glossar: Zum Inhalt: Zeichentrickfilm), unter dem Hassan aus dem Off (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) die tragischen Ereignisse schildert. Stilistisch erinnern die Zeichnungen an Graffitis, ein weiteres Element der HipHop- und Breakdance-Kultur, die ihren Ursprung in der Kultur afroamerikanischer Jugendlicher hat, was wiederum interessante Parallelen zum künstlerischen Umfeld der Akkouch-Geschwister erlaubt. Die Animationssequenzen machen insbesondere das Gefühl der Bedrohung und Entfremdung bei der erzwungenen Ausreise und dem mehrwöchigen Aufenthalt im Libanon spürbar. Informationen darüber, wie die die Akkouchs nach Deutschland zurückkehren konnten sowie zum Verbleib des Vaters, liefert der Film jedoch nicht.

Musik zur Selbstvergewisserung

Lial im Studio (Foto: GMfilms)

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Die Offenheit und Authentizität der Protagonisten/innen, mit der sie soziale und persönliche Aspekte der Themen Migration und Integration, soziale Ungerechtigkeit und Vorurteile ansprechen, stellen große Nähe und Sympathie her. Die Geschwister sprechen für sich selbst, auf einen erläuternden Off-Kommentar (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) haben die Filmemacher verzichtet. So unvoreingenommen und wertefrei ihr Alltag dargestellt wird, wird auch die HipHop- und Breakdance-Szene als Teil ihrer Lebenswelt gezeigt. "Neukölln Unlimited" begleitet die Geschwister zu Breakdance-Battles, Konzerten und Theater-Aufführungen, an denen sie teilnehmen. Die dynamischen Tanz- und Gesangseinlagen von Lial, Hassan und Maradona, in denen Leidenschaft und Talent zum Ausdruck kommen, sind der rote Faden in der Dramaturgie des Films. Aus Musik und Tanz beziehen die Jugendlichen die Kraft, die sie brauchen, um den großen emotionalen Druck, der auf ihnen lastet, zu kompensieren. In ihren autobiografischen Song- und Rap-Texten spiegeln sich ihre persönliche Meinung und Erfahrung sowie das Lebensgefühl vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund wider. Mit ihrer reifen Haltung gestalten die Geschwister – hier vor allem Lial und Hassan – aktiv Politik und Kultur mit und bieten damit nicht nur jugendlichen Migranten/innen ein positives Vorbild.

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