456 Frauen und Männer, die meisten von ihnen hoch verschuldet, treten an einem streng bewachten Ort in einem Wettkampf mit scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander an. Sie wurden extra dafür angeworben. Gelockt hat sie ein hohes Preisgeld. Doch bei den Kinderspielen geht es am Ende um Leben und Tod: Wer verliert, wird auf der Stelle exekutiert. Das ist der Plot der südkoreanischen Produktion Zum Filmarchiv: "Squid Game" (Regie: Hwang Dong-hyuk), die der US-amerikanische Streaming-Dienst Netflix am 17. September 2021 weltweit veröffentlicht hat.

Von der Kritik wurde die Serie unterschiedlich aufgenommen. Die einen sahen darin eine tiefgehende Kritik an Kapitalismus und Leistungsdruck und werteten "Squid Game" als "Kunst, die zur Auseinandersetzung herausfordert" (Der Spiegel). Für andere war die Serie dagegen eine inhaltsarme und "schwer verdauliche Gewaltorgie", die die niederen Instinkte der Zuschauer/-innen anvisiere und sich damit zugleich als Geldmaschine eines global agierenden Konzerns entlarve (Der Tagesspiegel).

Gewalt als Mittel zur Monetarisierung

Knapp einen Monat nach Serienstart meldete der Streamingdienst via Twitter, dass bereits 111 Millionen Netflix-Konten auf "Squid Game" zugegriffen haben – ein Rekord, den bislang keine Serie des Anbieters erreicht hatte und der auch im März 2022 noch anhält (Zum externen Inhalt: siehe Netflix Top 10 (öffnet im neuen Tab)). Bereits im November 2021 hat Regisseur und Zum Inhalt: Drehbuchautor Hwang eine Fortsetzung der Serie angekündigt.

Der Publikumserfolg von "Squid Game" zeigt, dass sich für Filmstudios und Streamingdienste wie Netflix Filme und Serien mit Gewaltdarstellungen lohnen. Dabei spielt es offenbar kaum eine Rolle, ob Gewalt darin als Selbstzweck, als Stilisierung, als Charakter- und Story-Element oder zur Abschreckung gezeigt wird. Jede Erwähnung des Serientitels, jede Nachahmung auf dem Schulhof, jede Veröffentlichung in sozialen Netzwerken stellt in der digitalisierten Medienwelt eine kostenfreie Werbung und Weiterverbreitung der entsprechenden Inhalte dar. Die Gewalt, egal wie explizit sie sein mag, zahlt sich für den Anbieter in barer Münze aus.

"Squid Game" auf dem Schulhof

Für Aufsehen und lebhafte Diskussionen sorgte die Serie aber vor allem aus anderen Gründen: "Squid Game" , das der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) von Netflix nicht zur Prüfung vorgelegt worden war und von dem Streamingdienst selbst für ein Publikum ab 16 Jahren empfohlen wird, sahen sich offenbar auch Kinder im Grundschulalter und Teenager an. Die Serie war in Deutschland nicht nur auf Schulhöfen Gesprächsstoff, sondern die darin gezeigten Spiele wurden dort auch mitunter nachgespielt.

So berichtete der Bayrische Rundfunk im Oktober 2021, dass es in Augsburg an Schulen zu Auseinandersetzungen zwischen Schüler/-innen gekommen sei, die Spiele aus der Serie nachgeahmt hätten. Dabei seien Kinder geohrfeigt oder beschimpft worden. Nach Angaben des Bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) waren in Bayern zudem an mehreren Grund- und Mittelschulen "Visitenkarten" aufgetaucht, die den Karten ähnelten, mit denen in der Serie Teilnehmer/-innen rekrutiert wurden, und die nun in den Schulen zu ähnlichen Spielen einluden.

Die aus den Vorfällen folgende gesellschaftliche Debatte drehte sich vor allem um folgende Fragen: Wie gelangen Kinder und Teenager an ein Medienangebot, das für sie nicht geeignet ist? Was können Pädagog/-innen und Eltern tun, wenn sie mitbekommen, dass ihre Schüler/-innen oder ihre Kinder "Squid Game" gesehen haben? Und welche Folgen kann die Rezeption von Gewaltdarstellungen haben? (siehe dazu das Zum Inhalt: "Die Verarbeitung von Medienerfahrungen braucht Kommunikation"kinofenster.de-Interview mit dem Medienpädagogen Christian Exner).

Die Rolle der sozialen Medien

Nach dem internationalen Starttermin entwickelten sich die Serie und deren Inhalte bereits innerhalb kurzer Zeit zu einem weltweiten Phänomen. Unter anderem wurden Memes geteilt, Videos zur Serie auf TikTok gepostet, Kostüme von Wärtern und Spieler/-innen ver- und gekauft und Kekse, die in der Serie bei einem Wettbewerb eine Rolle spielen, nachgebacken. Auch wer "Squid Game" nicht direkt auf Netflix gesehen hatte, konnte also davon erfahren, da auf sozialen Medien, per Messenger-Apps wie WhatsApp oder Telegramm sowie auf Videoplattformen die Serie und ihre Inhalte thematisiert wurden und werden. Nicht zuletzt trugen auch ältere Freund/-innen, Mitschüler/-innen oder Geschwister zur Verbreitung bei.

Die Verschmelzung von Internet und Fernsehen ermöglicht, dass sich mediale Trends schnell von Smartphone zu Smartphone verbreiten und wie etwa im Fall von "Squid Game" auf dem Schulhof oder im Alltag spielerisch nachgeahmt werden. Welche Folgen der Konsum sowie das Nachspielen der brutalen Tötungen und Bestrafungen für Kinder haben können, ist dabei individuell verschieden und kann nicht verallgemeinert werden. Jedoch wurde in der Debatte um "Squid Game" befürchtet und zum Teil auch beobachtet, dass die drastischen und in einer realen Welt angesiedelten Gewaltdarstellungen einige junge Zuschauer/-innen überforderten und verunsicherten (Christian Reinhold, Kindermedienland Baden-Württemberg) und es bei den Schulhofspielen mitunter zu aggressiven Verhalten kam. Befürchtet wurde zudem ein Gewöhnungseffekt in Bezug auf Gewaltdarstellungen.

Der Umgang mit "Squid Game" in schulischen und außerschulischen Kontexten

Das Schulpsychologische und Inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBUZ) warnte Ende 2021 in einem Elternbrief vor den seelischen Folgen des Nachspielens für Kinder: Das SIBUZ betont darin die Wichtigkeit, die Einstellung der von Netflix angebotenen Kindersicherung, also die Sicherung des Zugangs durch ein Passwort, von Streaming-Accounts zu überprüfen, um so sicherzustellen, dass gewalttätige Inhalte wie "Squid Game" für Kinder unzugänglich bleiben. Das Schreiben endet mit der klaren Handlungsempfehlung an die Eltern von Schülern/-innen unter 16 Jahren, die Serie auch nicht gemeinsam mit ihren Kindern zu schauen.

Auch die Medienanstalt Rheinland-Pfalz rät zur Nutzung des Jugendschutzprogramms von Netflix. "Als Aufsicht haben wir keinen Grund und keine Handhabe, gegen Netflix vorzugehen", so Dr. Marc Jan Eumann, Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Netflix hat als erster Streaming-Dienst in Deutschland ein Jugendschutzprogramm implementiert. Eltern und Erziehende könnten damit selbst für mehr Jugendschutz sorgen, in dem sie für Kinder Profile anlegen, die ausschließlich altersgerechte Filme und Serien zulassen.

Die Leitperspektive der Medienbildung des Bildungsplans von Baden-Württemberg sieht laut Landesmedienzentrum Baden-Württemberg vor, dass ein mediales Phänomen wie "Squid Game" in verschiedenen Unterrichtsfächern thematisiert werden kann. Angesichts der hohen Viralität der Serie, also der schnellen Verbreitung von Inhalten in der digitalen Welt, sollten sich Pädagog/-innen allerdings genau überlegen, in welcher Form dies im Unterricht geschehen kann. Die Serie bietet vielfältige Möglichkeiten, um mediales Verhalten kritisch zu diskutieren und einzuordnen. Dabei kann es sowohl um exzessive Mediennutzung gehen, als auch um die Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens im digitalen Zeitalter, wie das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg in dem Beitrag "Squid Game auf dem Schulhof – Was jetzt?" aufzeigt. Anhand der Serie kann exemplarisch herausgearbeitet werden, wie "man als Gesellschaft medial miteinander leben will: im ständigen medialen (Instagram- und Fortnite)-Wettbewerb, im Zelebrieren und Skandalisieren medialer (fiktiver wie realer) Gewalt (…)? Oder in kreativer, wertschätzender und gestalterischer Art, ohne Angst, etwas zu verpassen?"