Dr. Julian Namé hat Soziologie und Internationale Beziehungen in Puebla, Mexiko und an der London School of Economics and Political Science (LSE) studiert. Er liebt es, Kindern und Jugendlichen seine Begeisterung für das Thema Film näher zu bringen und ist seit langem in der Museums- und Filmpädagogik tätig, unter anderem am DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt. Mit kinofenster.de spricht er über das Potenzial von Zum Inhalt: Stummfilmen und Zum Inhalt: Slapstick in der Filmvermittlung.

kinofenster.de: Sie setzen in Ihrer filmpädagogischen Arbeit regelmäßig Stummfilme ein. Wie reagieren die Kinder und Jugendlichen auf diese ungewohnte Seherfahrung und welche Erfahrungen haben Sie in dieser Arbeit gemacht?

Dr. Julian Namé: Bis jetzt sind meine Erfahrungen immer sehr positiv. Die Kids – und zwar nicht nur die Kleinen, sondern auch die Jugendlichen – sind ziemlich überrascht und begeistert. Es gibt viele Fragen und Bemerkungen. Sie merken: Das ist etwas ganz anderes. Im Deutschen Filminstitut & Filmmuseum schauen wir Stummfilme mit Schulkindern von Klein bis Groß, wir analysieren, wie sie funktionieren und was sie bedeuten. Die Fragestellungen unterscheiden sich natürlich je nach Alter. Mit den ganz jungen Kids geht es oft erst einmal darum, den Kinoraum zu entdecken: Woher kommen der Ton und das Licht, was ist das hinter dem Vorhang?

kinofenster.de: Welches Potenzial bieten Stummfilme in der Arbeit mit Kindern?

Dr. Julian Namé: Stummfilme sind erstens oft kurz und kompakt. Das ist natürlich ein Vorteil für Lehrer, die sich fragen müssen: Passt das in eine Schulstunde? Die Filme lassen sich sehr gut im Unterricht einsetzen. Zweitens gibt es in Schulklassen sehr diverse Hintergründe, einige Schüler lernen noch Deutsch. Stummfilme ohne Sprache schaffen eine gewisse Gleichheit, denn von ihnen werden alle Kids kalt erwischt – egal ob sie in Deutschland aufgewachsen oder neu hier sind. Sie sind eine Art Fenster in eine andere Welt und eine andere Zeit, die ihnen unbekannt ist. Ein anderer interessanter Aspekt ist, dass die etwas älteren Kinder alle Handys haben. In einer Klasse gibt es also um die 25 Handys mit Kameras. Stummfilme wurden dagegen nur mit einer Kamera gedreht, die sich auch überhaupt nicht bewegt. Das müssen sich die Kids erstmal vorstellen: Kann man so einen Film drehen? Wie geht das? Die Idee, dass man die Kamera festhält, sie nicht die ganze Zeit bewegt (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) und heran- und wegzoomt (Glossar: Zum Inhalt: Zoom), ist für sie natürlich überraschend.

kinofenster.de: Wie sind Ihre Erfahrungen mit Stummfilmkomödien? Welche Möglichkeiten sehen Sie speziell für Slapstickfilme in der filmpädagogischen Praxis?

Dr. Julian Namé: Slapstick macht eigentlich immer Spaß, weil er die Regeln bricht - gerade in der Schule, wo es so viele Regeln gibt. Ein Film, den wir in unseren Programmen oft nutzen, heißt "Das durchgedrehte Rad" ("Bizzarrie di una ruota" , IT 1908). Da dreht sich ein Rad durch eine Zum Inhalt: Szene nach der anderen und zerstört alles. Je mehr zerstört wird, desto mehr Spaß haben die Kinder! In einem anderen Film – "Der begossene Gärtner" ("L‘Arroseur arrosé" , FR 1895) von Louis Lumière – will ein Gärtner seine Pflanzen gießen. Aber ein Junge steht auf seinem Schlauch und es fließt kein Wasser. Der Gärtner weiß das nicht, aber wir Zuschauer schon. So wird sofort eine Spannung erzeugt. Am Ende kriegt der Gärtner das ganze Wasser natürlich ins Gesicht. Solcher Slapstick ist für die Kids sehr leicht zu verstehen, weil er so visuell ist. Auch kennen fast alle Kids das sogenannte Zum externen Inhalt: Mickey Mousing (öffnet im neuen Tab): Jemand bekommt im Film einen Hammer auf den Kopf und was hört man? "Peng!" Jemand stolpert und fällt: "Boom! Bang!" Deshalb vertone ich gerne Stummfilme mit den Kindern, mit Zum Inhalt: Musik und Geräuschen (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sounddesign). Das macht wirklich Spaß – und interessanterweise fällt es denen, die ein Instrument spielen, oft viel schwerer. Die fragen dann: "Wo sind die Noten?" Dann sage ich: "Die Noten sind der Film auf der Leinwand, schau hin, der Film hat seinen eigenen Rhythmus!" Man kann auch selbst Zum Inhalt: Special Effects von damals ausprobieren – das geht mit Tablets ganz locker. Man macht zum Beispiel eine Aufnahme von 30 Sekunden, die man dann rückwärts abspielt, oder nutzt Zum externen Inhalt: Stop Motion (öffnet im neuen Tab), um Dinge magisch auftauchen zu lassen. Ganz einfache Tricks, aber man muss genau überlegen: Wie verrückt soll die Szene am Ende aussehen?

kinofenster.de: Welchen Slapstickfilm oder welche Komiker/-innen halten Sie für die Filmarbeit mit Kindern für besonders geeignet?

Dr. Julian Namé: Charlie Chaplin ist ein Meister des Slapstick. Buster Keaton auch, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Ich glaube, Chaplin ist für die Kids ein bisschen zugänglicher: Er ist immer der Außenseiter und schlägt sich durch in einer Welt, die er nicht ganz versteht. Und das ist natürlich für die Kids auch so, sie verstehen die Welt manchmal selbst nicht so ganz, aber müssen da durch. Buster Keaton scheint immer etwas nachdenklicher und nimmt sich ein bisschen Zeit, zu überlegen. Das ist natürlich auch nicht schlecht. Auch die Zum externen Inhalt: Keystone Cops (öffnet im neuen Tab) finde ich klasse, bei denen ist immer alles sehr, sehr schnell. Oder Zum externen Inhalt: Laurel und Hardy (öffnet im neuen Tab). Solche Filme kann man ganz toll zum Spaß zeigen und, wenn die Kids älter sind, fragen: "Okay, aber was macht sie witzig, wie sind sie aufgebaut?" Übrigens: Der Stummfilm lebt weiter, wir sehen es nur nicht. Wer aber kennt nicht "Mr. Bean" oder "Shaun das Schaf"?!

kinofenster.de: Warum ist Filmbildung wichtig?

Dr. Julian Namé: Erstens werden wir ständig von Bildern bombardiert und machen selbst jeden Tag Milliarden Bilder mit unseren Handys. Aber wie sind Filme eigentlich konstruiert und wie manipuliert uns ein Filmemacher? Natürlich machen Filme Spaß, aber letztendlich versucht jemand, uns mit allen möglichen Tricks etwas zu vermitteln. Und diese Tricks kann man lernen, wenn man genau hinschaut. Zweitens finde ich – und das ist ein sehr wichtiger Punkt –, dass man in der Filmbildung nicht immer alles verstehen muss. In der Schule gibt es richtig oder falsch. Aber mit Kunst ist es nicht so einfach. Fragen zu stellen, ist immer gut. Vielleicht hat man nicht die Antwort, aber die Frage selbst öffnet schon Türen.