Katrin Hünemörder ist politische Bildnerin und Geschäftsführerin von medialepfade.org – Verein für Medienbildung e.V. Der Verein entwickelt Konzepte in den Bereichen Mobiles Lernen, e-Partizipation, Games und Medienkunst, um neue Wege des digitalen Lernens und der Beteiligung zu ermöglichen. kinofenster.de sprach mit ihr über die Chancen und Herausforderungen digitaler Bildung und wie die Digitalität in Zukunft Bildungsräume und die Rolle von Lehrenden und Lernenden verändern wird.

kinofenster.de: Was bedeutet Digitalität für die schulische und außerschulische Bildung?

Katrin Hünemörder: Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der nicht in irgendeiner Weise von digitalen Technologien beeinflusst ist. Deswegen benötigen wir im Bildungsbereich einen
ganzheitlichen Blick auf Digitalität. Sie ist Teil unserer Lebenswelt und der Bildung. Das ist weder gut noch schlecht. Wir müssen uns überlegen, wie wir sie einsetzen und nutzen, um das zu erreichen, was wir wollen. Aber gerade die Geschwindigkeit, mit der sich digitale Technologien entwickeln, stellt für alle Lehrenden eine große Herausforderung dar.

kinofenster.de: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Katrin Hünemörder: In einem unserer Projekte geht es zum Beispiel um Online-Radikalisierung und Prävention. Wir schauen uns dabei gemeinsam mit Jugendlichen in sozialen Netzwerken an, wie demokratiefeindliche und rechtsextreme Organisationen agieren und welche Strategien sie verfolgen. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, um für Schüler/-innen Handlungsoptionen ableiten zu können. In sozialen Netzwerken wirken viele Inhalte auf den ersten Blick harmlos. Es ist nicht immer offensichtlich, wie Algorithmen, Ansprache und der Einsatz bestimmter Hashtags die Aussage von extremistischen Inhalten verschleiern und verstärken. Diese Auseinandersetzung ist auch eine Herausforderung für Lehrpersonen. Sie müssen in der Vorbereitung auf eine Vielzahl von Informationen und Codes der Akteurinnen und Akteure achten. Man benötigt also Spezialwissen und muss sich beständig weiterbilden.

kinofenster.de: Wie können zukünftige digitale Handlungs-und Bildungsräume aussehen?

Katrin Hünemörder: Eine wichtige Fragestellung gilt für Lehrende und Lernende gleichermaßen: Welche gesellschaftlichen oder persönlichen Herausforderungen gibt es und wie können wir sie mittels digitaler Technologien lösen? Die Antworten und die Herangehensweisen können ganz unterschiedlich aussehen. Schüler/-innen könnten einen Code schreiben, der ein Problem ganz praktisch angeht. Oder sie könnten eine Webseite oder eine Applikation bauen, die bestimmte Probleme sichtbar macht. Es kann aber auch sein, dass im Rahmen eines Projekts etwas repariert wird, dabei kommt dann vielleicht ein 3D-Drucker zum Einsatz. Egal worum es im konkreten Fall geht, können digitale Technologien verstärkt Teil der Lösung sein. Dabei muss aber klar sein, dass es sich hier nicht um eine Wunderwaffe handelt, die pauschal als Lösung für alle möglichen Herausforderungen unserer Zeit gilt. Um Probleme wie die Klimakrise, soziale Ungleichheiten oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu lösen, müssen wir als Gesellschaft miteinander verhandeln, auf welcher wertebasierten Grundlage wir agieren und wer an diesen Debatten teilnehmen soll. Da geht es um Fragen von Demokratie, Partizipation, Gerechtigkeit, Solidarität. Insbesondere digitale Räume müssen hier als Verhandlungsräume mitgedacht und einbezogen werden, denn sie bieten insbesondere den Gruppen, die strukturell bedingt weniger Zugang zu etablierten analogen Räumen haben, die Möglichkeit der Sichtbarmachung eigener Perspektiven und Partizipation. Aber auch digitale Räume können dies nur leisten, wenn sie die Einhaltung demokratischer Prinzipien gewährleisten und gerechte Zugänge ermöglichen. Die Schule wie auch außerschulische Institutionen werden darum viel stärker gemeinsam an digitaler Bildung beteiligt sein. Die Bildungsakteure sind also nicht nur die Schulen. Es sind Vereine und außerschulische Bildungsorte, es sind aber auch die Elternhäuser. Wir müssen weg von der Idee, dass Bildung nur in der Schule stattfindet.

kinofenster.de: Wie können wir digitale Angebote fördern und gleichzeitig einen kritischen Umgang mit Digitalität beibehalten?

Katrin Hünemörder: Es muss in digitalen Bildungsräumen immer um Themen und Inhalte gehen. Es geht nicht wie im klassischen Bildungssystem darum, Wissen zu vermitteln, sondern Kinder und Jugendliche zu ermächtigen, kritisch und selbstbestimmt in der digitalisierten Welt zu agieren. Das gilt ebenso für Lehrende. Sie müssen sich zukünftig stärker und beständig fortbilden, mit neuen Themen auseinandersetzen, um wiederum eigene Bildungskonzepte entwickeln zu können. Algorithmen und KI spielen da natürlich eine Rolle. Wie algorithmische Bildungssysteme uns zukünftig beeinflussen und wie jeder einzelne sie für sich nutzen kann, ist ein sehr individueller Prozess, der auch nur funktionieren kann, wenn Bildungsräume einerseits die technischen Vorrausetzungen besitzen. Anderseits sollten Lehrende digital selbstbewusst und emanzipiert handeln. Denn nur weil bestimmte Technologien existieren, heißt das nicht, dass man sie zwingend einsetzen muss. Zu erkennen, was hinter technologischen Neuerungen steckt und wie sie eingesetzt werden können, um bestimmte Ziele zu erreichen, ist enorm wichtig, um Bildungsmaterialien entwickeln zu können. Deswegen ist Open Education so wichtig.

kinofenster.de: Was genau ist damit gemeint?

Katrin Hünemörder: Die große Chance im Digitalen liegt in der Offenlegung und in der freien Bearbeitbarkeit von Materialien. Open Education hat den Ansatz, Bildung möglichst frei verfügbar zu machen. Das betrifft sowohl die digitalen Tools als auch Lernmaterialien, auf die jeder frei zugreifen kann. Der Vorteil von sogenannten "Open Education Resources" (OER): Lehrende können Produzent/-innen von Lernmaterialien sein und ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit anderen teilen. Die Fülle an Open-Education-Materialien bringt aber ein weiteres Problem mit sich. Wie kann man gute von schlechten digitalen Lehrmaterialien unterscheiden?

kinofenster.de: Ein wichtiger Punkt, denn eine Umfrage des DGB hat ergeben, dass nicht mal jede zehnte Lehrkraft die Digitalisierung als Entlastung sieht.

Katrin Hünemörder: Die besten Bildungsmaterialien sind diejenigen, die ihre eigene Entstehung transparent machen. Dazu sollten die wesentlichen Fragen und die Lernziele, die wesentlichen Fakten und vor allem die Methoden gut erkennbar sein. Für Lehrkräfte sind die CC-Lizenzen der OER wichtig, damit sie einschätzen können, inwieweit sie die Materialien bearbeiten können. Ich kenne viele Lehrkräfte, die genau hier voll im Thema stecken. Aber ja, wir sprechen immer noch von einer Nische. Wer heute einen pädagogischen Beruf ergreift, muss aber wissen, dass es ein Beruf ist, der sich ständig wandelt. Früher waren Lehrkräfte diejenigen, die die Autorität des Wissens besaßen. Mit der Digitalität geht es viel stärker darum, kritisches Denken zu etablieren. In diesem Prozess sind Lehrkräfte keine Wissensvermittler/-innen mehr, sondern viel mehr Lernbegleiter/-innen. Darüber muss der Bildungsbereich immer wieder aufklären. Das geht über Fortbildung, aber auch über stärkere Vernetzung, über Social Media sowie über digitale Bildungsplattformen und -kanäle.

kinofenster.de: Welche Möglichkeiten eröffnet Digitalität für die Filmbildung?

Katrin Hünemörder: Filmbildung ist der Ursprung der Medienbildung, denn Filme oder Videos zeigen Perspektiven auf uns und die Gesellschaft auf. Ich finde es wichtig, dass Filmbildung reflektiert, wie Filme und Bilder zustande kommen, gerade weil wir im Digitalen die ganze Zeit von bewegten Bildern umgeben sind. Filmemachen war früher etwas Elitäres. Schon allein deswegen, weil die Produktion eines Kinofilms sehr viele Ressourcen benötigte. Der Blick auf die Vermittlung von Filmsästhetik war zudem häufig auf Regisseur/-innen oder Kamerapersonen gerichtet. Mit den digitalen Möglichkeiten kann heute jeder selbst kreativ sein. Das gibt der Filmbildung eine ganz neue Ebene. Lernende müssen nicht mehr nur auf die Rezeption festgelegt sein. Sie können selbst partizipieren, also an eine Produktion beteiligt werden, Zum Inhalt: Regie führen, hinter der Kamera stehen und Zum Inhalt: Drehbücher schreiben. Egal ob das nun ein längerer Film oder ein kurzes TikTok ist. Digitalität bedeutet Zugang. Für die Filmbildung heißt das, wir sprechen nicht nur über Rahmenbedingungen und Grundlagen, sondern wenden sie an.

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