Für die einen ist Lampedusa Heimat, für die anderen "die Insel der Hoffnung". Etwa 70 Seemeilen vor der Küste Tunesiens gelegen, ist die italienische Insel immer wieder das Ziel von Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa flüchten. 400.000 Bootsflüchtlinge, so heißt es in einem Zum Inhalt: Insert zu Beginn des Films "Seefeuer" , sind in den letzten zwei Jahrzehnten dort, an einem der südlichsten Punkte der EU, gelandet. Schätzungsweise 15.000 Menschen, so eine weitere genannte Zahl, kamen bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen, denn niemand weiß, wie viele flüchtende Frauen, Männer und Kinder tatsächlich im Mittelmeer ertrunken sind.

Leben im Angesicht des Ausnahmezustands

Wie es sich im Schatten dieses Ausnahmezustands lebt, erkundet Gianfranco Rosi in seinem Film "Seefeuer" . Über ein Jahr lang hat der Dokumentarfilmer auf Lampedusa lebende Menschen und deren Alltag beobachtet und zugleich die Rettungseinsätze der Küstenwache gefilmt. Lampedusa, so legt sein Film nahe, ist nicht nur ein Brennpunkt der Flüchtlingskrise, sondern auch ein Sinnbild für Europa und dessen Haltung zu dieser humanitären Katastrophe. So bietet der Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Seefeuer" zahlreiche Anknüpfungspunkte für den Schulunterricht, da er Schülerinnen und Schüler für die Not geflüchteter Menschen und für die Situation an Europas Außengrenzen sensibilisiert und gleichzeitig als Orientierungshilfe fungieren kann, um sich im Unterricht mit den unterschiedlichen medialen Darstellungsweisen der Flüchtlingskrise auseinanderzusetzen.

Seefeuer, Szene (© Weltkino Filmverleih)

Die Flüchtlingskrise aus Sicht der Einheimischen

Im Mittelpunkt von Rosis Beobachtungen steht der 12-jährige Samuele, der eine Kindheit erlebt, die von den Ereignissen um ihn herum unberührt scheint. Mit seiner Steinschleuder streift er über die Insel, jagt Vögel und schießt auf Kakteen. Sein Vater geht täglich fischen, während seine Großmutter kocht und vom Krieg erzählt – als das Meer in Flammen stand. Im Radio läuft der Schlager "Fuocoammare" (dt.: "Feuer im/am Meer"), dessen Titel zum Sinnbild des Films wird. Erzählt das Lied von der brennenden See oder vom hoffnungsvollen Schein eines Leuchtturms? Auch der Film findet auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Das Leben der Einheimischen und das der Geflüchteten weist kaum Überschneidungen auf. Der örtliche Arzt Dr. Bartolo allerdings erlebt die Not unmittelbar. Er hilft bei der Versorgung der Geretteten und wird so zum moralischen Anker des Films. Der sichtlich erschütterte Arzt ist zudem der einzige Protagonist, der direkt in die Kamera spricht, wenn er von seinen Erfahrungen berichtet. Damit wird er neben dem schwer zugänglichen Samuele, bei dem der Arzt eine Sehschwäche diagnostiziert, zur einzigen Identifikationsfigur des Films.

Getrennte Welten

Die geflüchteten Menschen bleiben in "Seefeuer" indes meist eine anonyme Masse. Bei der Auswahl seiner Motive orientiert sich der Regisseur mitunter an einer konventionellen Fernseh- und Reportage-Ästhetik. Dabei lässt er seine Bilder durchgehend unkommentiert stehen und überträgt damit deren Interpretation den Zuschauer/-innen. Bei der Ankunft sind die geretteten Bootsflüchtlinge in Gruppen zu sehen, die technokratischen Abläufe von Versorgung und Registrierung der Zufluchtssuchenden hält der Film in langen Kameraeinstellungen fest. Über die Situationen in ihren Herkunftsländern oder die Fluchthintergründe erfährt das Publikum kaum etwas. Einmal singen die afrikanischen Männer in einem sogenannten Auffanglager ein Lied über ihre Fluchterfahrung, später sind sie kurz beim Fußballspiel zu sehen. Ein direkter Kontakt mit den Einheimischen findet kaum statt. Die Distanz gegenüber den Geretteten wie auch die mentale Abstumpfung oder Erschöpfung werden in den nüchternen Gesprächen der Helfer/-innen vor Ort spürbar. Wie diese Szenen interpretiert werden können – ob etwa als Bild einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber den unzähligen Todesfällen an den europäischen Außengrenzen oder als Versuch, einer humanitären Katastrophe angemessen zu begegnen – sollte im Unterricht besprochen werden. Davon ausgehend regt "Seefeuer" dazu an, in den Fächern Deutsch, Ethik, Philosophie und Politik, die Haltung Europas zur Flüchtlingskatastrophe eingehender zu analysieren. Steht Lampedusa für die EU-Flüchtlingspolitik oder stellvertretend für die Anrainerstaaten am Mittelmeer, die im besonderen Maße mit der Flüchtlingskrise konfrontiert sind?

Solche Gespräche können bei den einheimischen Jugendlichen ein Verständnis für das Ausmaß der Flüchtlingskrise, aber vor allem auch die Notlage der Geflüchteten wecken. Hierfür bietet sich etwa die bewegende Gesangsszene der Männer an. Ziel ist es dabei, die Individualität der Fluchterfahrung zu unterstreichen, die aufgrund der realen Nachrichtenbilder vom Massensterben im Mittelmeer oftmals in den Hintergrund gerät. Im Film ist es Samuele, der diese Entwicklung symbolisch nachvollzieht: Sein erwachendes Mitgefühl für die Vögel, denen er anfangs mit der Schleuder nachstellt, beschreibt eine Art Läuterung: Er erlernt die Fähigkeit zur Empathie für die Schwachen einer Gemeinschaft. Damit bietet sich der Junge für eine Figurenanalyse an.

Seefeuer, Szene (© Weltkino Filmverleih)

Zwischen Dokumentation und Inszenierung

Mit seinen langen und sorgfältig komponierten Einstellungen bezieht sich der Dokumentarfilm "Seefeuer" formal auf die italienische Schule des Neorealismus, insbesondere auf "Die Erde bebt" (1948), Luchino Viscontis berühmten Spielfilm über ein sizilianisches Fischerdorf. Wie Visconti arbeitet Rosi mit den Einheimischen. Die auf den ersten Blick dokumentarische Form, die auch auf Zum Inhalt: extra-diegetische Musik verzichtet, pointiert Rosi jedoch immer wieder mit Zum Inhalt: Sequenzen, die offenbar inszeniert sind und die Inselbewohner/-innen in Alltagssituationen zeigen, etwa wenn im Radio das titelgebende Lied gespielt wird. Das Verhältnis von Dokumentation und Inszenierung ebenso wie Rosis Vorliebe für Zum Inhalt: Naheinstellungen und Stilisierungen – etwa rotierende Radaranlagen, die in der Dunkelheit wie bedrohliche Riesenroboter anmuten – sind formale Aspekte des Films, die im Unterricht thematisiert werden sollten: Einerseits geht es dabei um die Analyse der Stilmittel in dem eher konventionell anmutenden Dokumentarfilm, weiterführend aber auch um die Frage nach der vermeintlich objektiven Perspektive des Dokumentarfilms.

Letzteres betrifft insbesondere die Szenen, in denen der Regisseur einen Rettungseinsatz auf hoher See begleitet und das Sterben aus nächster Nähe filmt. Die schockierenden Bilder von durcheinanderliegenden Menschen im Unterdeck eines Flüchtlingsboots, auf die Schülerinnen und Schüler emotional vorbereitet werden sollten, werfen ethische Fragen auf, die in den Fächern Deutsch, Politik und Philosophie behandelt werden müssen: Darf das reale Leid von Menschen so direkt in einem Kinofilm gezeigt werden? Wo liegt die Grenze zwischen Anteilnahme und Voyeurismus? In diesem Zusammenhang bietet sich im Unterricht auch ein medialer Vergleich zwischen der Wirkung dieser Filmaufnahmen und den Bildern aus Nachrichtensendungen an. Inwiefern unterscheidet sich die Beobachterperspektive in "Seefeuer" von den Darstellungen in den Medien?

Eine Frage der Wahrnehmung

Diese Fragestellungen helfen Schülerinnen und Schülern dabei, die Unterscheidung zwischen persönlicher und öffentlicher Wahrnehmung zu schärfen. Ein schönes Bild hierfür liefert der Film selbst mit dem Motiv der "Einäugigkeit": Dr. Bartolo verschreibt Samuele eine Augenklappe, damit der sein schwaches Auge trainiert. Diese ärztliche Anweisung besitzt auch eine metaphorische Dimension, sie kann als Aufforderung an das Publikum verstanden werden, genauer hinzusehen – und sich mit der Realität, der Situation der Flüchtlinge, auseinanderzusetzen.

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