Ulrike Becker studierte u. a. Arbeitslehre und Sonderpädagogik. Nach dem Zweiten Staatsexamen promovierte sie im Bereich Erziehungswissenschaft und habilitierte anschließend in Potsdam mit einer Lehrbefähigung für den Bereich Integrationspädagogik. Als Professorin wirkt sie an der Universität Potsdam in der Lehrerausbildung mit dem Forschungsschwerpunkt Inklusion. Seit 2013 leitet sie die Integrierte Sekundarschule Refik Veseli in Berlin-Kreuzberg.

Klassen bestehen häufig aus Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Herkunft. Aus diesem Grund sollten Lehrerinnen und Lehrer interkulturelle Kompetenz aufweisen. Was ist damit konkret gemeint?

Die Lehrkräfte müssen Offenheit für Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Kulturen und Religionen signalisieren. Das verringert Konflikte, die häufig aus der Angst vor fremden Kulturen resultieren. Deshalb ist die interkulturelle Kompetenz vor allem dadurch geprägt, dass man bereit ist, in den Dialog zu gehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kommunikation, die in der Schule ausreichend Raum erhalten muss. Dafür gibt es unterschiedliche Instrumentarien. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit dem reformpädagogischen Ansatz des Klassenrats gemacht. Dabei können die Jugendlichen Themen und Probleme formulieren, die ihnen wichtig sind. Das stärkt die Klassengemeinschaft.

Haben denn Konflikte aufgrund unterschiedlicher kultureller Normen zugenommen?

Das ist schwer zu sagen, da sich im Alltag Konflikte, die im Kontext der Pubertät bei Jugendlichen entwicklungsbedingt auftreten, mit kulturellen oder religiösen Konflikten mischen. Wichtig ist, dass die Lehrenden genau analysieren, ob ein Konflikt aufgrund von Sprachbarrieren oder unterschiedlicher kultureller Normen entstanden ist. Letzteres ist nicht immer der Fall. Es gab an unserer Schule im letzten Jahr ein Vorkommnis mit Schülerinnen im Sportunterricht, die ihre Kopftücher nicht abnehmen wollten. Ihr Argument lautete, dass Männer sie sehen könnten. Wir haben jedoch geschlechtergetrennten Sportunterricht. Es stellte sich heraus, dass es einfach der Versuch war, sich Erwachsenen zu widersetzen, was in der Pubertät völlig normal ist. Religion oder kulturelle Normen dienen bisweilen als Vorwand. Aber um dies unterscheiden zu können, bedarf es Sensibilität bei den Pädagoginnen und Pädagogen. Dafür ist interkulturelle Kompetenz essenziell.

Wie wird interkulturelle Kompetenz in der Lehrerausbildung vermittelt?

Es gibt an den Universitäten entsprechende Seminare. Das ist die theoretische Grundlage. Aber ähnlich wie beim Autofahren ist die Praxis entscheidend. Missverständnisse im Schulalltag treten häufig aufgrund von Sprachbarrieren auf. Obwohl die Kinder hier geboren und aufgewachsen sind, sprechen und verstehen manche von ihnen schlecht Deutsch. Lehrende glauben, einen klaren Arbeitsauftrag formuliert zu haben, und stellen dann fest, dass sie nicht richtig verstanden wurden. Selten liegt das am Desinteresse der Schüler und Schülerinnen. Daher ist es wichtig, die Gründe der Missverständnisse und die eigene Sprache zu reflektieren. Manchmal braucht man dazu auch Fallberatung und Supervision.

Welche Fortbildungsmaßnahmen gibt es für Lehrerinnen und Lehrer, zum Beispiel Cultural-Awareness-Training?

Es gibt eine Vielzahl von Angeboten auf regionaler Ebene oder in Fortbildungsverbünden. In Berlin bieten auch das Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM) und das Institut für Menschenrechte sogenannte Diversity-Trainings an. Diese Kurse, die den Umgang mit Heterogenität vermitteln, können von Lehrerinnen und Lehrern individuell oder von Schulen im Rahmen der Studientage gebucht werden.

Welche Grundregeln sollten in heterogenen Klassen beachtet werden?

Sämtliche Regeln müssen transparent sein. Bei uns ist die Unterrichtssprache Deutsch. Zwiegespräche unter Schülerinnen und Schülern können aber auch in der jeweiligen Muttersprache erfolgen. Wenn sich die Kinder und Jugendlichen in der Schule zuhause fühlen sollen, dürfen sie auch in ihrer Muttersprache denken und sprechen. Bei der Vermittlung kultureller Normen ist es wichtig klarzumachen, dass keine Kultur besser oder schlechter ist. Vor zwei Jahren gab es an unserer Schule Konflikte, weil während des Ramadans muslimische Kinder nicht fasteten. Diese wurden von fastenden muslimischen Mitschülerinnen und Mitschülern beleidigt. Seitdem wir eine Lehrer-Eltern-Schüler-Informationsveranstaltung zum Thema "Ramadan und Schule" angeboten haben, gibt es diese Konflikte kaum noch. Das höchste Ziel der inklusiven Gesellschaft besteht darin, dass die Menschen Ambiguitätstoleranz entwickeln. Das heißt, dass sie auf kulturell bedingte Unterschiede weder aggressiv noch ablehnend reagieren, sondern die Unterschiede als Gewinn begreifen.

Welche Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach Filme bei der Vermittlung interkultureller Kompetenz?

Eine sehr wichtige, denn die visuelle Ebene hat deutlich weniger Hürden als eine rein verbale. Wir haben auch mit der Filmproduktion sehr gute Erfahrungen gemacht. Das Medium ermöglicht den Jugendlichen einen leichteren Zugang zu historischen oder politischen Themen, weil die gemeinsame Arbeit und der Dreh ihnen Freude bereiten. Im Rahmen einer Geschichtswerkstatt, die wir zusammen mit dem Jüdischen Museum veranstaltet haben, haben die Schülerinnen und Schüler zum Thema Nahost-Konflikt geforscht. Sie hatten ein halbes Jahr lang Zeit, an Dokumentarfilmen zu arbeiten. Grundlage waren Interviews mit in Berlin lebenden jüdischen und arabischen Israelis. Viele der Kinder haben Verwandte im Nahen Osten. Von daher gingen sie zum Teil sehr vorurteilsbeladen in die Recherche. Aber nach Ende der Filmarbeiten hatten viele ihre Meinung hinsichtlich der Ursachen des Konflikts oder einer eindeutigen Schuldzuweisung revidiert.