"Der Saal ist dunkel. Schon sind wir umfangen von einer Welt, die uns das feierliche Theater so wenig auftut wie der kleine Fernsehschirm in unserem Wohnzimmer. Wir halten den Atem an. Das Zauberspiel beginnt." So beschrieb 1977 der Schriftsteller Jean Améry das Erlebnis eines Kinobesuchs. Heute, fast 45 Jahre später, werden Filme immer selbstverständlicher auf anderem Weg geschaut: Ob als Video-on-Demand (VoD) oder DVD, auf dem Fernseher, Laptop oder Smartphone – einen Film zu sehen, hat nur noch selten etwas mit dem zu tun, was klassischerweise „Kino“ genannt wird. Trotz aller neuen Möglichkeiten ist das Filmerlebnis an diesem Ort jedoch noch immer so prägnant, dass es weiterhin als Idealbild gilt. Dieses "Besondere" des Kinos kann durch seine dispositive Struktur beschrieben werden. Der Begriff Dispositiv wurde in den 1970er-Jahren von dem französischen Philosophen Paul-Michel Foucault geprägt, der damit ein Netz an Elementen bezeichnete, welches die gesellschaftliche Wahrnehmung von Dingen und Vorgängen strukturiert. Der Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry übertrug das Konzept auf das Kino. Bis heute wird es diskutiert, modifiziert und durch weitere Aspekte ergänzt, die in ihrem Zusammenspiel das Kino als Ort charakterisieren und die sich beim Besuch eines Kinos gut nachvollziehen lassen.

Kino als Kokon

Im Gegensatz zum Filmeschauen auf dem heimischen Sofa ist ein Kinobesuch mit Aufwand verbunden: Man muss das Programm studieren, sich auf den Weg machen und Geld investieren. Dafür ermöglichen Filmtheater eine kurzzeitige Auszeit vom Alltag. Mit dem Überschreiten der Schwelle zum Foyer und daraufhin zum Kinosaal befinden sich die Besucher/-innen in einem "kinematographischem Kokon" (Roland Barthes), in dem alles auf das Filmerlebnis ausgerichtet ist. Zugangsbeschränkungen wie Eintrittskarten und Altersbegrenzungen heben den exklusiven Charakter der Veranstaltung hervor. Die konsequente Abschottung von der Außenwelt bildet die Grundlage für eine ungeteilte Aufmerksamkeit, die sich auf die Leinwand richten kann. Der stets ähnliche Ablauf des Ankommens schafft zugleich Entspannung und Erwartung: Die Besucher/-innen wissen, was bevorsteht und doch steigern das schummrige Licht und die Hintergrundmusik die Spannung. Wenn das Licht gedimmt wird und der Vorhang sich öffnet, ist allen klar, dass die Vorführung nun beginnt – auch wenn der Projektor nicht mehr, wie früher, ratternd anläuft. Nebenbei das Smartphone zu nutzen, Getränke zu holen oder auf Toilette zu gehen: Zu Hause ist es beinahe normal, die Filmrezeption durch weitere Tätigkeiten zu begleiten — auch weil der Film jederzeit angehalten werden kann. Die Dunkelheit und Stille des Kinos sowie die fortlaufende Vorführung unterbinden diese Nebenaktivitäten idealerweise. Sobald das Licht gelöscht und der äußere Raum unsichtbar wird und sich somit entfernt, können die Zuschauenden in die filmische Erzählung eintauchen.

picture alliance / Geisler-Fotopress | Thomas Bartilla/Geisler-Fotopress

Kino als technische Höhle

Vereinfacht der rituelle Ablauf vor Beginn sich auf den Film einzulassen, so dienen weitere Elemente dazu, diesen Zustand während der Vorstellung aufrechtzuerhalten. Baudry bediente sich Platons Höhlengleichnis, um die spezifische Wirkweise des Kinos zu verdeutlichen. Wie in der überlieferten Geschichte sitzt auch hier eine Gruppe von Menschen an einem festen, unveränderbaren Platz in einem dunklen Raum und betrachtet wechselnde Bilder, die an eine gegenüberliegende Wand projiziert werden. Während sich das Theater durch die Raumtiefe der Bühne, den klassischerweise runden Saal sowie die Live-Inszenierung auszeichnet, sind gerade die zentralperspektivische Anordnung sowie das aus dem Rücken der Zuschauenden auf die Leinwand einfallende Licht entscheidend für die Erfahrung im Filmtheater. Diese Elemente, die in der Kinosituation zusammenkommen, erschaffen eine sinnliche audiovisuelle Attraktion, die das Publikum scheinbar in das filmische Geschehen einschließt und die sowohl die eigene körperliche Realität als auch die Welt außerhalb des Kinosaals in den Hintergrund treten lassen.

Die möglichst umfassende Dunkelheit blendet andere Personen aus und schärft die Sinne. Der Saal wird so zu einer dunklen Höhle, in der nichts anderes mehr zu existieren scheint als die eigene Person und die helle Leinwand. Auch wenn das Publikum dabei nicht wie ins Platons Analogie wortwörtlich an seine Sitze gefesselt wird, so wirkt doch eine gewisse Trägheit auf den Körper. In dieser Ruheposition bleibt der Blick fast zwangsweise auf die Leinwand gerichtet und es bietet sich kaum eine Möglichkeit, sich dem Filmgeschehen zu entziehen. Dazu trägt auch eine immer ausgefeiltere Technik bei: Eine Leinwand, die das Blickfeld vollständig einnimmt, ein Ton, der uns von allen Seiten umschließt und ein gestochen scharfes Bild, das mit Hilfe von Zum Inhalt: 3D-Technologie scheinbar sogar in den Saal vordringt, steigern das Gefühl, sich mitten in der filmischen Handlung zu befinden. Moderne Saalkonzepte wie "Dolby Cinema" oder "IMAX with Laser" fokussieren sich daher besonders auf überdimensionale, hochkontrastreiche HDR- oder LED-Screens und Surround-Sound, der über zahlreiche Tonspuren und Lautsprecher abgespielt wird, um sich vom Heimkino abzugrenzen.

Cecilia Fabiano/LaPresse via ZUMA Press

Kino als Hypnose?

Als Vertreter der psychoanalytischen Filmtheorie interessierte Baudry besonders die Beziehung zwischen Subjekt und Film. Analog zu Platons Gleichnis ging er davon aus, dass die Zuschauer/-innen im Kino in einen hilflosen, traumartigen Zustand geraten, in welchem sie nicht mehr zwischen Realität und Illusion unterscheiden können. In diesem Kontext warnte er auch vor den ideologieerzeugenden beziehungsweise -verstärkenden Effekten, die in dieser Hypnose-Situation auf die Zuschauenden wirken können – und die dazu führen, dass beispielsweise vermittelte Weltanschauungen unbewusst übernommen werden. Auch wenn die Annahme eines passiven Publikums und eines übermächtigen Kinos übertrieben erscheint, suchen Kinogänger/-innen ein Filmtheater ganz bewusst mit dem Wunsch auf, eine besondere Realitätswahrnehmung zu erleben.

Kino als sozialer Raum

Die bisher aufgeführten Merkmale beziehen sich vorrangig auf ein Filmerlebnis in konventionellen Kinos. Doch es existieren neben herkömmlichen Spielstätten wie Multiplexen oder Programmkinos zahlreiche Sonderformen wie Open-Air-Veranstaltungen, Wander- und Guerillakinos oder Vorführungen an Schulen, die eine Vorstellung von "Kino" deutlich erweitern. Sie spielen mit den typischen Charakteristika und können aus verschiedenen Gründen keine absolute Dunkelheit, gemütliche Bestuhlung oder qualitativ hochwertige Technik garantieren. Dennoch gleichen sie sich in dem spezifischen Gefühl der Gemeinschaft der Zuschauenden, das noch vor der räumlichen und sinnlichen Erfahrung prägend für ein Kinoerlebnis ist.

picture-alliance/ ZB | Matthias Hiekel

Das Kino als Ort ist ein öffentlicher Raum und die Filmvorführung somit eine öffentliche Veranstaltung. Auch wenn ein Individuum die Vorstellung zunächst allein und für sich erlebt, ist es doch Teil eines Kollektivs, das sich mit einem gemeinsamen Interesse vor der Leinwand versammelt hat. Seit Beginn des Kinos beobachten Kinotheoretiker/-innen das Phänomen, dass sich zwischen den Anwesenden ein temporäres Gemeinschaftsgefühl und Interaktionen entspinnen. Köpfe im Sichtfeld oder nahes Getuschel mögen als störend empfunden werden, sie stärken aber das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. Es wird gemeinsam gelacht, geweint oder vor Schreck aufgeschrien und so eine empathische Nähe geschaffen, der man sich nur schwer entziehen kann. Es ist das Wesen des Ortes Kino, dass hier fremde Menschen aufeinandertreffen, die bewusst eine befristete Zeit in völliger Abgeschiedenheit miteinander verbringen und — ohne dabei ihre Anonymität zu verlieren — etwas von sich preisgeben. Am Ende verlassen sie den „kinematographischem Kokon“ als Individuen mit ihren persönlichen Sinneseindrücken und gleichzeitig als Teil einer Gruppe mit einer gemeinsamen, einzigartigen Erfahrung.

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