Kategorie: Interview
"Geschichte ist komplex und polyperspektivisch"
Die Filmwissenschaftlerin und Autorin Sonja M. Schultz erläutert den Wandel der Darstellung von NS-Täter/-innen im Spielfilm
Die Journalistin und Schriftstellerin Sonja M. Schultz promovierte zum Thema Die politische Leinwand. Nationalsozialismus und Holocaust im Film, 1933–2010. Sie hat mehrere akademische Beiträge zu Vergangenheitsdarstellungen im Film veröffentlicht (darunter: Der Nationalsozialismus im Film: Von "Triumph des Willens" bis "Inglourious Basterds" , 2012; Zwischen Komik, Horror und Klischee: "Zug des Lebens" und die Macht der Stereotype in Filmen vom Holocaust, 2019; Kino und Katharsis? Bilder vom Nationalsozialismus im deutschen Film, 2021).
Die Auseinandersetzung mit NS-Täter/-innen beginnt im Film des Nachkriegsdeutschlands sehr früh, beispielsweise mit Zum Filmarchiv: "Die Mörder sind unter uns" (Wolfgang Staudte, DE 1946). Was wird zu dieser Zeit erzählt?
Die sogenannten Trümmerfilme stellen vor allem die Kriegserfahrungen der Deutschen dar, schildern persönliche Ohnmacht und eigene Traumata. Täterfiguren sind ausschließlich höhere Vorgesetzte oder zählen zu SS und Gestapo. Das hatte etwas Entlastendes. Die Auseinandersetzung mit eigener Schuld fand in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre kaum statt. Der Holocaust spielte auch keine dezidierte Rolle. Filmische Ausnahmen, die dennoch Aspekte der Judenvernichtung thematisierten, waren überwiegend von selbst Betroffenen der Verfolgungen hergestellt (u.a. "Ehe im Schatten" , Kurt Maetzig, DE 1947; "Morituri" , Eugen York, DE 1948; "Lang ist der Weg" , Herbert B. Fredersdorf/Marek Goldstein, DE 1948). Für einen Paradigmenwechsel war später in der Bundesrepublik vor allem die Ausstrahlung der Serie "Holocaust" (Marvin J. Chomsky, USA 1978) maßgeblich, die dem Vernichtungsprojekt, das bis dahin in Deutschland immer noch die NS-Bezeichnung "Endlösung" trug, erst den heute gebräuchlichen Namen gab. Seitdem wurden zunehmend auch jüdische Schicksale filmisch in den Blick genommen.
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden sich in den Narrativen, wenn Sie Filme aus der DDR und der Bundesrepublik vergleichen?
Eine Gemeinsamkeit findet sich in der tabuisierten Hitler-Darstellung. Hitler blieb lange eine übermächtige, aber visuell weitgehend unsichtbare Figur. Die Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) mancher Filme zeigten ihn – wenn überhaupt – nur von hinten oder im Anschnitt. Oder er kam auf der Tonebene vor, beispielsweise als brüllende Stimme aus dem Telefon ("Der 20. Juli" , Falk Harnack; "Es geschah am 20. Juli" , Georg Wilhelm Pabst, beide BRD 1955). Eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum bildet "Der letzte Akt" (Georg Wilhelm Pabst, AT 1955), der die letzten Kriegstage in Berlin und speziell die Situation im Führerbunker als bissige Groteske inszeniert und den Diktator entmythisiert. Zeitgleich zum Eintritt der Bundesrepublik in die Nato 1955 entstand in Westdeutschland eine Militärfilmwelle. Das Kriegskino machte etwa zehn Prozent der in der Bundesrepublik produzierten Spielfilme aus. Zentral war darin, am Mythos der "sauberen Wehrmacht" festzuhalten. Entweder wurde das einfache Landserleben dargestellt ("08/15" , Paul May, BRD 1954 sowie die beiden Folgeteile von 1955), das Leid deutscher Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft ("Der Arzt von Stalingrad" , Géza von Radványi, BRD 1958) oder führende Militärs als Opfer des NS-Regimes gezeigt ("Canaris" , Alfred Weidenmann, BRD 1954; "Des Teufels General" , Helmut Käutner, BRD 1955). In der DDR wurden Antifaschismus und kommunistischer Widerstand in den Mittelpunkt der Filmerzählungen gestellt. DEFA-Produktionen wie "Der Rat der Götter" (Kurt Maetzig, DDR 1950), der die Profitgeschichte des Zyklon-B-Herstellers I.G. Farben im Nationalsozialismus verfolgt, betonen einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus. Mit diesem Narrativ ließ sich zum einen die vermeintliche Gefahr erklären, die von der Bundesrepublik oder den USA ausgehe, zum anderen wurde das sozialistische Gesellschaftssystem von jeglicher Mitschuld entlastet, wenn allein das Kapital den Faschismus zu verantworten habe.
Welche Rolle spielt die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Diktatur und des Zweiten Weltkriegs?
Allgemein wuchs mit der Zeit das Wissen um die NS-Vernichtungspolitik, die Beteiligung verschiedener Akteur/-innen, die strukturellen und individuellen Voraussetzungen von Täter/-innen- oder Mitläufer/-innenschaft. Auch durch den Eichmann-Prozess 1961 oder die Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963-1965) richtete sich der öffentliche Blick zunehmend weg von Hitler als angeblich Alleinverantwortlichem hin zu Beteiligten aus der einfachen Bevölkerung und der von Hannah Arendt konstatierten "Banalität des Bösen". Es beginnt der Versuch, das Systemische der Diktatur zu verstehen. Ein Beispiel dieser Zeit ist der Fernsehfilm "Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager 1939" (Egon Monk, BRD 1965), der den Lageralltag noch vor dem Beschluss der Vernichtung jüdischer Menschen zeigt. Die Hierarchie und der Terror der KZ-Ordnung werden nüchtern rekonstruiert, es gibt weder auf Täter- noch auf Opferseite stereotype Darstellungen. Der Film kommt ohne effektvolle Bildmittel oder Dramatisierung durch Zum Inhalt: Filmmusik aus. Ähnliches gilt für Theodor Kotullas Zum Filmarchiv: "Aus einem deutschen Leben" (BRD 1977), der die Biografie des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, nachzeichnet. Beide Filme zeigen auf, wie Karrieredenken oder vermeintliche Tugenden wie Gehorsam und Pflichtbewusstsein zu mörderischem Handeln befähigen können. Bei beiden lohnt sich der Vergleich mit Zum Filmarchiv: "The Zone of Interest" (Jonathan Glazer, UK/PL/USA 2023), was die Erzählweise betrifft.
Dem gegenüber steht das große Interesse an nationalsozialistischen Tätern auf höchster Führungsebene, vor allem an Hitler. Woher rührt das?
Hitlerbilder waren in der NS-Propaganda omnipräsent und fetischisiert. Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Dritten Reichs ging von Hitlerdarstellungen im Film oft eine dezidiert negative "Strahlkraft" aus. Eine Fixierung auf die NS-Elite besitzt fürs Publikum kaum Identifikationspotenzial, hochrangige Täter bleiben in der Distanz, somit entfällt auch die Frage, wie man sich selbst damals verhalten hätte. Was bleibt, ist eine Mischung aus Personenkult, Voyeurismus und gefahrlosem Grusel, der das eigene Leben scheinbar nicht berührt. Während einer internationalen Hitler-Filmwelle der 1970er-Jahre gab es zahlreiche Versuche, Hitlers letzte Tage zu erzählen. Die Zum Inhalt: Drehbücher basierten meist auf Augenzeugenberichten von Hitlers Vertrauten oder seinem Personal, was problematisch ist, wenn Objektivität suggeriert wird, aber ausschließlich ein innerer Kreis von persönlich Beteiligten die Perspektive vorgibt. So ist es etwa Rüstungsminister Albert Speer nachhaltig gelungen, sein eigenes Medienbild bis hin zu Zum Filmarchiv: "Der Untergang " (Regie: Oliver Hirschbiegel, DE 2004) massiv zu schönen, seine unterstützende Rolle bei Kriegsverlängerung und Holocaust zu unterschlagen. Der Publizist Joachim Fest, der unter anderem 1969 Speers biografische Erinnerungen herausbrachte, veröffentlichte 1977 gemeinsam mit Christian Herrendoerfer die Kompilation "Hitler – eine Karriere" . Der Zum Inhalt: Dokumentarfilm arbeitet mit Originalaufnahmen. Jedoch handelt es sich vorwiegend um Propagandamaterial des NS-Regimes, dem ein nachträglicher Off-Kommentar (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) beigestellt ist. Der Audioebene gelingt es allerdings nicht, die starke ideologische Kraft der NS-Bilder zu brechen. Somit wird die Propaganda reproduziert.
Inwieweit können Filme einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten?
Das korrespondiert mit den Möglichkeiten, die Film grundsätzlich hat: Er ist emotionaler und leichter zugänglich als ein Geschichtsbuch, wird oft als "authentisch" wahrgenommen. Er ist wirkmächtig und erreicht ein breites Publikum. Das kommunikative Gedächtnis verschwindet und wird vollends durch das kulturelle der Medien ersetzt. Genau darin besteht aber auch die Gefahr. So entwirft ein Film wie "Der Untergang" heroische Bilder von NS-Größen wie Albert Speer oder dem SS-Arzt Ernst Günther Schenck, ohne deren Täterschaft zu erwähnen. Filme können also Zugänge zur Beschäftigung mit der Vergangenheit öffnen oder unseren Blick wieder verengen und simplifizieren.
Wie sollte mit Filmen über NS-Täter/-innen im Unterricht umgegangen werden?
Sie sollten immer auch medienkritisch betrachtet und kontextualisiert werden. Was waren die geschichtlichen Realitäten, was zeigt der Film – und auf welche Weise? Wessen Perspektive wird nicht gezeigt? Der deutsche TV-Mehrteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" (Philipp Kadelbach, DE 2013) illustriert, wie deutsche Soldaten durch ihren Einsatz an der Ostfront traumatisiert wurden. Sie werden "schuldlos schuldig" und Opfer des Kriegssystems, begehren jedoch schließlich gegen ihre Vorgesetzten auf. Vor allem die polnischen Figuren werden als antisemitisch dargestellt, nicht die deutschen. Solch einer einseitigen, geschönten Filmerzählung ließen sich zum Beispiel Bilder der "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung gegenüberstellen, auf denen deutsche Landser grinsend vor Leichen ihrer Opfer posieren. Das sind Fotos, die sie als Erinnerung mit nach Hause genommen haben. Geschichte ist komplex und polyperspektivisch. Das sollte stets vermittelt werden.