Kategorie: Hintergrund
Im Haus des NS-Mörders: Sequenzanalysen zu "The Zone of Interest"
Anhand von drei Sequenzen untersucht der Text Jonathan Glazers aktivierenden filmästhetischen Ansatz.
Spielfilme über NS-Täter bewegen sich zwangsläufig auf schmalem Grat: Einerseits geht mit der Fokussierung einher, dass die Opfer des nationalsozialistischen Regimes aus dem Blick geraten können – wie etwa in Zum Filmarchiv: "Der Untergang" (Oliver Hirschbiegel, DE/IT/AT 2004). Nicht selten wird Filmen auch attestiert, entlastende Stereotype zu reproduzieren oder eher "das Böse" zu mystifizieren als aufklärerisch zu wirken. Andererseits ist die Darstellbarkeit des Holocaust seit jeher höchst umstritten: So stießen die Gewaltszenen in Steven Spielbergs Zum Filmarchiv: "Schindlers Liste" ("Schindler’s List" , USA 1993) und deren Einbindung in eine Spannungsdramaturgie (Glossar: Zum Inhalt: Suspense und Zum Inhalt: Dramaturgie) teils auf vehemente Kritik. Mit Zum Filmarchiv: "The Zone of Interest" ist dem Briten Jonathan Glazer nun ein komplexer Spielfilm über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß gelungen, der die Thematik auf völlig neue Weise angeht. Das liegt nicht allein daran, dass die Handlung komplett außerhalb des Konzentrations- und Vernichtungslagers angesiedelt ist und stattdessen den häuslichen Alltag eines Haupttäters des Holocaust zeigt. Entscheidend ist vielmehr Glazers experimenteller filmästhetischer Ansatz, der auf eine Aktivierung der Zuschauer/-innen zielt.
Die Höß-Villa als Filmset
Von zentraler Bedeutung für Glazers Konzept ist der Hauptschauplatz des Films: die direkt am Stammlager Ausschwitz liegende Villa des Kommandanten und der dazugehörige Garten. Für sein Projekt ließ der Regisseur ein ähnliches Haus nahe des erhaltenen Originalgebäudes samt Grundstück nach dem historischen Vorbild umbauen. Das erlaubte es ihm, vor Ort in Ausschwitz zu drehen und die realen Bauten des Stammlagers als Hintergrund zu verwenden – und zugleich das Zum Inhalt: Set selbst nach seinen Vorstellungen zu gestalten. So war es Glazer möglich, in Haus und Garten zehn hoch auflösende Digitalkameras versteckt zu positionieren, wodurch jede Zum Inhalt: Szene gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln und ohne künstliche Beleuchtung (siehe dazu Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) aufgenommen werden konnte. Im Folgenden soll anhand von drei Zum Inhalt: Sequenzen untersucht werden, wie Glazer diesen Ansatz, den er in Anlehnung an das Reality-TV-Format "Big Brother in a Nazi house" nennt, in seiner Zum Inhalt: Inszenierung umsetzt.
Sequenz: Der Besuch der Firma Topf & Söhne
Die Zum Inhalt: Sequenz zeigt den Arbeitsbesuch von Ingenieuren der Firma Topf & Söhne in der Kommandantenvilla, die Höß Pläne für ein neu entwickeltes Krematorium vorstellen. Parallel dazu führt sie in die alltäglichen Abläufe im Haus der Familie Höß ein. Wie nahezu im gesamten Film reihen sich auch hier starre distanzierte Einstellungen (überwiegend Totalen und Halbtotalen - Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) aneinander, die in ihrer gestochenen Schärfe (Glossar: Zum Inhalt: Tiefenschärfe/Schärfentiefe) und mit ihrem natürlichen Licht sehr "real" wirken. Während Filme mit multiperspektivischem Ansatz in der Regel verschiedene subjektive Blickwinkel von Filmfiguren wiedergeben, filmen die Kameras hier gewissermaßen aus objektiver Warte: Die Einstellungen fangen Nebenfiguren wie einen KZ-Häftling und die Dienerin gleichberechtigt zu den Hauptfiguren ein. Die Zuschauenden wähnen sich in der Position von Beobachtenden, die dem Geschehen heimlich aus der Distanz und mehren Perspektiven "live" folgen. Das bedeutet auch, dass sie sich die Vorgänge weitgehend selbst erschließen müssen: Glasers Inszenierung bietet bewusst wenig Orientierung, selbst die Tonebene (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound Design) vermischt Geräusche und Dialoge scheinbar unterschiedslos.
Tatsächlich ist genaues Hinsehen und Hinhören, aber auch Kontextwissen nötig, um die Brutalität der Szene zu erfassen. So wäscht der Häftling Blut von den Kommandantenstiefeln. Der heitere Kaffeeklatsch der Offiziersfrauen dreht sich um Kleidung, die sie sich von deportierten und vermutlich schon vergasten Jüdinnen angeeignet haben. Dass sie dabei "Kanada" erwähnen – so hieß im KZ-Jargon der Bereich in Ausschwitz, wo der Besitz der Ermordeten sortiert und gelagert wurde –, verrät genaue Kenntnisse über das Lager. Und die Ingenieure sprechen in ihren Ausführungen über das geplante Krematorium von den in den Gaskammern getöteten Menschen nüchtern als "Stück" und "Ladung".
Ihre verstörende Wirkung entfaltet die Sequenz nicht zuletzt durch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Mordgeschehen, das für sämtliche Anwesende offensichtlich selbstverständlicher Teil des Alltags ist. Auffällig an der Inszenierung ist dabei auch, wie fließend und lückenlos sie die Personen und Abläufe im Haus miteinander verbindet wie bei einer perfekten Staffelübergabe: Die jeweils neuen Einstellungen nehmen den Faden der vorherigen bruchlos aus anderer Perspektive wieder auf. Im Höß-Haus greift augenscheinlich ein Rädchen sauber ins andere. Alltägliche Routinen und Massenmord, Familie und Lager sind untrennbar – sie wirken zusammen und bedingen einander. Und fast scheint es, als zeige der markante Zum externen Inhalt: Topshot (öffnet im neuen Tab), der den Entwurfsplan des neuen, "Dauerbetrieb" ermöglichenden Krematoriums bildfüllend einfängt, davon ein Organigramm.
Sequenz: Der Paradiesgarten
In dieser Sequenz führt Hedwig Höß die zum Familienbesuch angereiste Mutter durch den von ihr selbst entworfenen "Paradiesgarten" unmittelbar an der Mauer zum Stammlager. Sie vermittelt, dass sich Hedwig mit ihrem Aufstieg zur "Königin von Auschwitz" frei von Skrupeln als überzeugte Nationalsozialistin selbstverwirklicht hat. Gleichzeitig klingt an, dass die Mutter, als einfache Frau "aus dem Volk", zumindest der Internierung von Jüdinnen und Juden gleichgültig begegnet: Beiläufig erwähnt sie, dass die jüdische Familie, für die sie früher geputzt hat, jetzt nebenan im Lager sein könne.
In der Szene sticht zunächst die ausnahmsweise zumindest vorübergehend bewegte Kamera hervor: Eine mehrfach unterbrochene langsame Zum externen Inhalt: Parallelfahrt (öffnet im neuen Tab) begleitet die Frauen in einer Totalen aus gleichbleibend großer Distanz durch den Garten. Die geradlinige Bewegung korrespondiert dabei mit dem horizontal gegliederten Bildaufbau (Glossar: Zum Inhalt: Bildkomposition), der Garten, Mauer und KZ-Bauten parallel zueinander als Vorder-, Mittel- und Hintergrund anordnet. Die Sequenz setzt den von der Hausherrin stolz präsentierten Wohlstand (mit Swimmingpool) visuell in augenscheinliche Beziehung zum KZ: In der Parallelfahrt geht er sichtbar mit der systematischen Ausbeutung und dem Massenmord einher. Die mächtige graue, mit Stacheldraht besetzte Lagermauer bildet nicht nur einen absurden Kontrast zur Farbenpracht des Gartens, sie wirkt wie ein Sinnbild der Grausamkeit, die diese Mauer – und Hedwig, die sie durch Bewuchs verschwinden lassen will – zu verbergen sucht.
Die idyllische Szene vor der Lagermauer beendet Glazer durch einen krassen Illusionsbruch. Nachdem die Mutter verstört aufblickt, als vom Lager her einzelne Schüsse aufknallen, setzt bald darauf eine Eskalation ein: Gebell, Insektensummen, Gebrüll, Schreie und Dröhnen vereinen sich zu einem unerträglichen Lärm, der sich auf eine Bilderfolge prachtvoller Blüten legt – bis schließlich ein Rotbild grell aufleuchtet und Stille einsetzt, durchbrochen von einem dunklen undefinierbaren Aufgrollen. Ein visueller und akustischer Horror, der schockartig die Qualen der Opfer evoziert – und zugleich animiert, die Szene zu rekapitulieren.
Sequenz: Das schlaflose Mädchen
Die Sequenz fängt zunächst Höß‘ abendlichen Kontrollgang durch das Haus wie mit dem Blick von Überwachungskameras ein. Aus ständig neuen Perspektiven erfasst sie ihn beim Türenverschließen und Lichterlöschen. Ein Vorgang, der den Übergang seiner beruflichen Funktion als Massenmörder im staatlichen Auftrag zu seiner privaten Existenz als fürsorglicher Familienmensch markiert. Die bruchlose Einstellungsfolge betont die routinierte Sorgfalt, mit der Höß die Villa anscheinend Nacht für Nacht sichert – als würde er Heim und Familie vor dem von ihm verantworteten Grauen hermetisch abschotten wollen. Doch als er seine Tochter, die offenbar nicht einschlafen kann, auf dem Flur des ersten Stocks entdeckt, blickt diese durch ein Fenster nach draußen. Und im ersten Moment scheint es, als würde sie dort ein Mädchen sehen, das Äpfel in einem Graben am Lagergelände versteckt.
Die alptraumhaft wirkenden Schwarzweiß-Aufnahmen der Wärmebildkamera, die das unbekannte Kind einfangen, lassen jedoch keine gesicherte Erkenntnis zu. Die visuelle Verfremdung, auf der Tonspur unterstützt durch das bereits bei der Gartenszene erwähnte dunkle Grollen, bricht den Realitätseindruck des Films abermals auf und überlässt den Zuschauenden die Deutung: Stellen die rätselhaften Bilder tatsächliche Ereignisse oder unbestimmte Ängste des Lagerkommandanten dar? Oder zeigen sie, wie die Tochter das vom Vater liebevoll im Kinderbett vorgelesene Märchen im Einschlafen innerlich verarbeitet? Auch an dieser Stelle ist Glazers Inszenierung darauf ausgerichtet, Fragen aufzuwerfen statt Ambivalenzen aufzulösen. Augenscheinlich ist nur: In Höß vereinen sich ein sanfter zugewandter Familienvater und der empathielose nationalsozialistische Mörder. Und: Die Bilder vom Mädchen, das nachts heimlich Äpfel versteckt, widersetzen sich der mörderischen Realität des Nazi-Familienidylls, die "The Zone of Interest" verstörend klar vor Augen führt.