Die kleine Tür führt in einen bläulich schimmernden Tunnel. Die zehnjährige Coraline im gleichnamigen Film von Henry Selick (USA 2009) ist neugierig, was sich dahinter verbergen mag und krabbelt hindurch. Dann aber kommt erst einmal Ernüchterung. Sieht in dieser fremden Welt nicht alles aus wie im tristen Zuhause? Hat der Tunnel nur in eine Welt geführt, die sie schon allzu gut kennt? Aber die Räume dort sind tiefer und größer. Die Küche erstrahlt in warmem Licht. In Coralines Zimmer steht ein wunderschönes Himmelbett. Und das Beste: Ihre Eltern kümmern sich liebevoll um sie. Nichts ist verboten. Coraline steht im Mittelpunkt. Wäre da nicht eine kleine Sache, die etwas Unbehagen auslöst. Coralines "andere Mutter" und "anderer Vater" haben Knöpfe, wo eigentlich Augen sein sollten. Eine Welt, die ebenso Wunsch, Versprechen wie Horror ist.

Magie als Teil kindlicher Wahrnehmung

Coraline

Universal Pictures International Germany

In der Lebenserfahrung von Kindern sind fantasievolle Parallelwelten wie in Zum Filmarchiv: "Coraline" ein fester Bestandteil – und wahrscheinlich wirken sie nur aus der Sicht eines Erwachsenen so unwirklich und zauberhaft. Denn im Gegensatz zu Erwachsenen, die nach dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget im Laufe des Heranwachsens ein formal-logisches Denken ausgebildet haben, sind die Grenzen zwischen Vorstellungswelt und "normaler" Welt für Kinder wie im Spiel fließend. Mit Eskapismus haben solche Ausflüge in die Fantasie dabei nicht notwendig etwas zu tun. Vielmehr sind sie fest verankert in der Art und Weise, wie Kinder ihre Welt wahrnehmen, und ein Versuch, sich mit ihrer Umwelt und sich selbst auseinander zu setzen. Die Figuren auf der Leinwand begegnen dem jungen Publikum auf Augenhöhe, zeigen eine vertraute Art, mit der Welt umzugehen und präsentieren das Magische, das nicht rational Greifbare, weder als auf Effekte zielenden Selbstzweck noch als "Spinnerei", sondern als Möglichkeit oder Erklärungsversuch mit Folgen. Exemplarisch können die Filmhelden/innen anschaulich vorführen, wie Traum- und Wunschwelten die Wahrnehmung bereichern.

Wünsche und Ängste

So findet Coraline etwa hinter dem Korridor eine Welt vor, die sie sich immer erträumt hat. Dort werden die unerfüllten Sehnsüchte ihres Alltags nach Geborgenheit erfüllt. Doch das Perfide an dem Film nach dem Roman von Neil Gaiman ist, dass diese neue Wunschwelt einen Haken hat – und so erfährt Coraline zugleich, dass nicht nur die einseitigen Forderungen an die Eltern wichtig sind, sondern der Dialog mit den Eltern. Um die Bedrohung der "anderen Mutter" zu überwinden, muss Coraline sich erst ihren Ängsten stellen und über sich hinauswachsen. Symbolisch erzählt der Film damit von einem Reifungsprozess auf dem Weg ins Erwachsensein. Doch weder Entzauberung noch rationale Welterklärung sollten das Ziel der filmpädagogischen Arbeit mit solchen Fantasiewelten sein, sondern vielmehr eine Unterstützung beim Formulieren und bei der Auseinandersetzung mit den Motiven der Filmfiguren, ihren Konflikten und ihren Lösungsstrategien. Im Gespräch oder in der künstlerisch-kreativen Beschäftigung – etwa durch das Nachspielen oder Zeichnen von Szenen – können Kinder sich den Filmfiguren annähern und eigene Bezüge zu deren Lebenssituation suchen.

Trauerverarbeitung mit Wunschfantasien

Abseits für Gilles

Alpha Medienkontor

Als Vorbild für die Zuschauenden macht auch die Hauptfigur in Jan Verheyens " " (Buitenspel, Belgien 2005) Mut und schafft Zuversicht. Der zwölfjährige Protagonist leidet unter einem traumatischen Erlebnis: Eines Tages bricht sein Vater zusammen und stirbt. Gilles heimlichster Wunsch erfüllt sich, als sein Vater für ihn, und nur für ihn, nachts zurückkommt. Er setzt das Fußballtraining seines Sohnes fort und begleitet ihn weiter. Nur hat er sich auch in Gilles Traumwelt nicht verändert und überfordert seinen Sohn noch immer mit seinen Erwartungen. So kommt es unvermeidlich zu einer Auseinandersetzung, sobald Gilles gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen und auf eigenen Beinen zu stehen. Die Fantasie hilft dem Jungen so nicht nur, seine Trauer zu verarbeiten und sich die Zeit zu nehmen, die er für den Abschied von seinem Vater braucht, sondern auch allmählich erwachsen zu werden und sich abzugrenzen. zeigt, wie Kinder in Träumen und Fantasien ihren Ängsten und Wünschen ein Gesicht geben, sie personifizieren und somit greifbar machen. Vor allen Dingen aber nimmt der Film Gilles' irrationalen Wunsch ernst und eröffnet durch die emotionalen Identifikationsangebote mit dem Jungen zahlreiche Anknüpfungspunkte für die schwierigen Themen Tod und Trauerarbeit.

Wundersame Begleiter

Die Stärke von Filmen ist es, solche persönlichen Welten auch für andere Personen zu öffnen und zugänglich zu machen, sie wahrhaftig vor dem Auge erscheinen zu lassen. Gilles' Vater ist wirklich im Bild zu sehen – und weil er zu sehen ist, kann er Gilles auch helfen und wird von den Zuschauenden als wahrhaftig angesehen. So wie der seltsame haarige "Geist" in Hayao Miyazakis "Mein Nachbar Totoro" (Tonari no Totoro, Japan 1986), der die achtjährige Satsuki und ihre jüngere Schwester Mei über den langen Krankenhausaufenthalt der geliebten Mutter hinwegtröstet und sie von ihren Sorgen ablenkt. Der Vater selbstverständlich, ein normaler Erwachsener, hat im Gegensatz zum Publikum keinen Zutritt zu dieser magischen Welt seiner Kinder. Typisch für alle diese Geschichten um Trauer- und Verlustängste ist, dass die wundersamen Begleiter danach wieder verschwinden. Es war schön, sie kennen gelernt zu haben. Aber nun brauchen die Filmfiguren sie nicht mehr. Sensibilität ist gefragt, wenn derart persönliche Themen in der filmpädagogischen Arbeit behandelt werden sollen, um die geheimen Fantasiewelten der Zuschauenden zu schützen. So eignet sich auch hier vor allem der Zugang über die Situation der Filmfiguren, die als Stellvertreter/innen bekannte Ängste und Sorgen (erfolgreich) durchlebt haben und über die diese – quasi anonym – ausgedrückt werden können. Oft enden diese Filme mit einem Abschied von der Wunsch- oder Traumwelt. Ein scheinbar natürlicher Reifungsprozess, wenn logisches Denken überhand nimmt. Und trotzdem feiern sie doch gerade die Kraft der Fantasie, die auch Jugendlichen und Erwachsenen vorführt, was irgendwann einmal alles möglich war – zumindest in der Imagination.