Kategorie: Interview
"Entwickle deine Fantasie, denke dir etwas aus"
Ein Interview mit Paul Maar über die Filmadaption seines Romans Lippels Traum (1984), den Reiz von Erzählungen aus Tausendundeine Nacht und die Kraft des Träumens.
Ein Interview mit Paul Maar über die Filmadaption seines Romans Lippels Traum (1984), den Reiz von Erzählungen aus Tausendundeine Nacht und die Kraft des Träumens.
Paul Maar zählt zu den bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautoren. Nach einem Studium der Malerei und Kunstgeschichte in Stuttgart war Paul Maar einige Jahre als Kunsterzieher tätig. Heute lebt und arbeitet er als freier Autor und Illustrator in Bamberg. Gemeinsam mit Ulrich Limmer hat er die Drehbücher zu Zum Filmarchiv: "Das Sams" (Ben Verbong, Deutschland 2001), (Ben Verbong, Deutschland 2003), (Ben Verbong, Deutschland 2006) und Zum Filmarchiv: "Lippels Traum" (Lars Büchel, Deutschland 2009) geschrieben.
Ihr Roman Lippels Traum ist vor 25 Jahren erschienen. Wie haben Sie Lippels Geschichte für den Film aktualisiert?
Wir haben ihr eine neue Richtung gegeben. Ursprünglich ist es so: Lippels Eltern verreisen für eine Woche ohne ihren Sohn. Lippel und die Zuschauer wissen: Am Schluss kommen sie wieder zurück und alles ist gut. Im Film ist sein Vater alleinerziehend. Als die durchaus attraktive Haushälterin Frau Jakob kommt, um auf Lippel aufzupassen, funkt es gleich ein bisschen zwischen den beiden. Und dann hört Lippel, wie Frau Jakob bereits über eine Hochzeit redet und ihn ins Internat schicken will. Nun wird auch der Zuschauer hoffen, dass der Vater Frau Jakob am Ende nicht heiratet, und Lippel muss zusehen, wie er sie irgendwie aus dem Haus schafft. Dadurch hat sich auch unbeabsichtigt etwas in der Psychologie verändert. In der Buchfassung sage ich dem Kind: Du bist jetzt in einer schwierigen Situation, aber warte einfach ab. Warte ab, dann kommt eine Hilfe von außen – die gute Frau Jeschke, Lippels alte Freundin –, und die löst dann dein Problem. Du musst nur passiv dasitzen und warten. Jetzt zeige ich dem Kind: Wenn du willst, dass sich etwas ändert, dann musst du die Situation aktiv in die Hand nehmen. Du musst schauen, wie du diese böse Frau Jakob irgendwie loswirst. Entwickle deine Fantasie, denke dir etwas aus. Und Lippel wird aktiv.
Die Märchenwelt aus Tausendundeine Nacht spielt im Film eine große Rolle. Was macht den Reiz der Geschichten aus dem Morgenland aus?
Als vor ungefähr 25 Jahren eine illustrierte Taschenbuchausgabe von Tausendundeine Nacht in einer neuen Übersetzung erschien, habe ich diese für mich entdeckt. Es war schade, dass sie in der westlichen Kultur überhaupt nicht präsent waren. Denn darin gibt es alles: Scherzgeschichten, Anekdoten, Tiergeschichten, Sagen – es ist ein ungeheurer Erzählschatz. Eine Geschichte fand ich besonders spannend. Ich habe in Zum Filmarchiv: "Lippels Traum" den Anfang übernommen, ohne ein Wort zu verändern. Diese Originalgeschichte bricht in dem Moment ab, als Lippel das Buch weggenommen wird. Er muss sie dann mit seiner eigenen Fantasie im Traum selbst weitererzählen.
Was gewinnt Lippel durch die Traumwelt?
Unser Unterbewusstsein weiß oft viel mehr, als wir glauben zu wissen, und im Traum sind wir ihm am nächsten. Lippel kann im Traum seine Gefühle unverstellt ausleben. Wenn er seinem Vater sagt: "Du kannst ruhig gehen, das macht mir nichts aus", dann macht ihm das in Wirklichkeit sehr viel aus. Aber er will seinen Vater nicht traurig machen oder ihn mit Selbstzweifeln wegfahren lassen. Im Traum ist er dann aber mutterseelenallein in einer Wüste, sitzt da und weint. Außerdem stellt er sich im Traum vor, welche Lösung der Prinz für seine Schwierigkeiten mit der bösen Tante, dieser Intrigantin am Königshof, finden könnte. Der Prinz schickt sie irgendwann einfach weg und sagt: "Das ist mein Reich und hier bestimme ich." Und deshalb sagt Lippel später zu Frau Jakob: "Das ist unser Haus und du gehst." Also hat er im Traum die Lösung gefunden, die er anwenden muss.
Lässt sich verallgemeinern, dass Fantasie und Träume das Selbstbewusstsein stärken können?
Ich war ein bisschen auf der 68er-Schiene. Damals hat man gesagt, fantastische Geschichten für Kinder seien schlecht, weil man sie damit von der Wirklichkeit ablenken, inaktiv machen und in eine Fantasiewelt entführen würde. Da ich aber fantastische Bücher geschrieben habe, hatte ich immer ein paar Selbstzweifel, vor allem, wenn mir damals auf Seminaren oder Tagungen gesagt wurde: "Sie mit ihren fantastischen Stücken! Gehen sie mal ins Grips Theater! Sehen Sie sich mal Maximilian Pfeiferling oder ähnliche Stücke an! So sollte man eigentlich schreiben." Inzwischen habe ich unter anderem durch meine Frau, die Psychologin und Familientherapeutin ist, mehr über die Kraft des Träumens und vor allen Dingen auch über das Tagträumen gelernt. Die Psychologen sind der Meinung, dass es sehr stabilisierend für die Seele, die Psyche, sein kann, wenn man sich für Momente aus der Wirklichkeit zurückzieht, sich innerlich fasst, in einer schönen Welt lebt, dadurch Kraft schöpft und wieder in die Wirklichkeit hineingeht. Also das genaue Gegenteil: nicht Flucht aus der Realität, sondern Träume und Tagträume als Kraftquelle.