Ein brennender Mann rennt eine Straße entlang. Vorbei an einer Frau und ihrem Hund, an einem Zeitungsstand und Basketballspielern. Niemand schenkt dem Mann Beachtung. Erst im letzten Augenblick schwenkt die Kamera auf ein Mädchen, das die Szene aufmerksam aus einem vorbeifahrenden Auto beobachtet. Spike Jonze hat dieses Musikvideo 1995 für das Lied California der Gruppe Wax inszeniert - und es verweist beispielhaft auf die Erzählhaltung und den Stil, die seine Videoclips und seine drei Spielfilme "Being John Malkovich" (USA 1999), (Adaptation, USA 2002) und Zum Filmarchiv: "Wo die wilden Kerle wohnen" (Where the Wild Things Are, USA 2009) auszeichnen: Reale und fantastische Welten gehen Hand in Hand, das eigentlich Aufsehen erregende, Außergewöhnliche verliert dadurch seinen Sonderstatus, wird normal und alltäglich.

Eine neue Regiegeneration

Spike Jonze hat sich in den 1990er-Jahren einen Namen als Regisseur von Werbe- und Videoclips gemacht, einer Zeit, als Fernsehsender wie MTV noch rund um die Uhr Musikvideos ausgestrahlt und die Jugend- und Medienkultur weltweit begleitet und geformt haben. Damals rückte eine junge Regiegeneration mit fantasievollen, häufig preisgekrönten Videoclips Rockstars ins richtige Licht, schuf Ikonen der Popkultur und prägte mit originellen Ideen das Image von Marken.

Control

Capelight Pictures / Central

Maßgeblich daran beteiligt, dass sich der Videoclip als eigenständige Gattung festigen konnte, waren unter anderen Jonze, Michel Gondry und der Künstler Chris Cunningham, die 2003 unter dem Director's Label eine DVD-Reihe mit den Arbeiten bedeutender Clip-Regisseure gründeten, sowie Mark Romanek, David Fincher und Anton Corbijn. Seit Ende der 1990er-Jahre haben viele von ihnen - mit unterschiedlicher Resonanz - auch Kinofilme gedreht. Jonzes erste beiden Spielfilme wurden mehrfach ausgezeichnet, auch Anton Corbijns Zum Inhalt: Biografie/BiopicBiopic "Control" (Großbritannien 2007) über den Musiker Ian Curtis erregte viel Aufmerksamkeit, während Mark Romaneks einziger Hollywoodspielfilm "One Hour Photo" (USA 2002), ein Psychothriller, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet blieb.

Effekt versus Zurückhaltung

Mit Michel Gondry teilt Spike Jonze zumindest in seinen Spielfilmen die Lust an verwickelten

Science of Sleep

Prokino Filmverleih

Geschichten und absurden Grenzüberschreitungen. Im Vergleich zu Gondrys avancierten Computereffekten im Musikvideo Come into my world für Kylie Minogue (2002) oder seinem Spielfilm (La science des rêves, Frankreich 2006) wirken Jonzes Filme jedoch ästhetisch schlicht und unspektakulär. Diese stilistische Zurückhaltung unterscheidet ihn auch von seinem Regiekollegen David Fincher, der in Janie's Got a Gun für Aerosmith (1989), dem Thriller "Sieben" (Se7en, USA 1995) oder der Literaturverfilmung "Der seltsame Fall des Benjamin Button" (The Curious Case of Benjamin Button, USA 2008) seine Vorliebe für aufwändige Inszenierungen und technische Spielereien unter Beweis stellt. In Praise You für Fatboy Slim, 1999 mit mehreren MTV Video Music Awards ausgezeichnet, imitiert Jonze die Ästhetik von Homevideos und filmt eine Gruppe von Amateurtänzern/innen, die sich mit einer kleinen Stereoanlage vor einem Kino in Kalifornien für eine Performance trifft. Passanten/innen beobachten das Treiben neugierig oder kopfschüttelnd. Der Clip irritierte das MTV-Publikum, weil er nicht zu den gängigen Hochglanzproduktionen passte, die das Programm bestimmten. Ähnlich funktioniert der Wettkampf zweier Kunstturnerinnen in dem Song Elektrobank von The Chemical Brothers. Die Auflösung in viele Zum Inhalt: EinstellungsgrößenKameraeinstellungen, das Spiel mit Zum Inhalt: Zeitraffer/ZeitlupeZeitlupe-Aufnahmen und die Untermalung durch die elektronischen Beats verleihen den routinierten Bewegungsabläufen einen neuen Rhythmus.

Beiläufige Verfremdungen

Beiläufig fließt das Außergewöhnliche in die Erzählungen der Clips von Jonze ein, ohne dabei befremdlich oder spektakulär zu wirken. Drop (1996) für The Pharcyde sieht zunächst aus wie ein konventionelles Performance-Video, wenngleich die Rapper sich irgendwie ungelenk bewegen. Erst allmählich wird deutlich, dass der Clip tatsächlich rückwärts läuft - und trotzdem bewegen sich die Musiker scheinbar vorwärts. Auch der menschengroße Hund mit dem gebrochenen Bein, der in Da Funk (1997) für das französische Elektronik-Duo Daft Punk mit einem Ghettoblaster einen Großstadt-Boulevard entlanggeht, scheint keine sonderliche Attraktion zu sein: Wie mit einem Menschen reden die Leute mit ihm über seine coole Musik oder über die gemeinsame Vergangenheit. Mit derartigen Abwandlungen und Realitätsverfremdungen unterläuft Jonze die gewohnte Wahrnehmung und lässt das Wundersame glaubhaft und normal werden - ein Trick, der auch seine Spielfilme prägt.

Direkt ins Gehirn

Der absurde direkte Zugang zum Gehirn von John Malkovich in Jonzes Spielfilm-Regiedebüt "Being John Malkovich" ist ebenfalls eingebettet in den Alltag: Er befindet sich hinter einem Aktenschrank im siebeneinhalbten Stockwerk eines New Yorker Bürogebäudes. Wer diesen Eingang findet, wie etwa der Puppenspieler Craig Schwartz, kann die Welt durch die Augen des Schauspielers Malkovich - gespielt von John Malkovich - sehen und den Star sogar manipulieren. Das Drehbuch von Charlie Kaufman hebelt Grenzen zwischen Fiktion und Realität aus und wirft zugleich einen selbstironischen Blick auf das Showbusiness Hollywoods. In gar, der zweiten Regiearbeit von Jonze über die Schreibblockaden eines Schriftstellers, schreibt sich Drehbuchautor Kaufman selbst als Figur in den Film. Erneut verbinden sich Fiktion und Realität, Fantasie und Alltag zu einem untrennbaren Potpourri. Jonzes Spielfilme bestechen durch ihre ganz eigene Mischung aus dezenten Spezialeffekten und verstrickten Handlungen. Und immer wieder erzählen sie von Menschen, die sich ihrer Gefühle nicht sicher sind.

Das Fremde und das Vertraute

So

Wo die wilden Kerle wohnen

Warner Bros.

weiß auch der zehnjährige Wildfang Max in Zum Filmarchiv: "Wo die wilden Kerle wohnen" nicht, wie er sich verhalten soll. Weil er tobt, kommt es zum Streit mit der Mutter - dabei hat er doch nur Angst, allein gelassen zu werden und will geliebt werden. Max läuft fort und gelangt ins Land der wilden Kerle, übermenschengroßer pelziger oder gefiederter Wesen. Trotzdem zeigt Spike Jonze diese Monster als überaus menschlich und glaubwürdig. So anders sie auch aussehen, so ähnlich sind sie doch Max und seiner realen Familie. Über das Fremde lernt Max, seine normale Welt besser zu verstehen. Und wie das Mädchen in dem Clip mit dem brennenden Mann ist es auch hier ein Kind, dem sich das Besondere eröffnet.