Wichtiger Hinweis:

Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Aufsatzes von Henning Schmidt-Semisch, der im November 2020 in Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) zum Thema "Rausch und Drogen" erschienen ist. Den vollständigen Text inklusive aller Quellenangaben finden auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung:
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In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg existierte in Westdeutschland bis Mitte der 1960er Jahre kein Drogenproblem im heutigen Sinne, und zwar weder mit Blick auf die Zahl der Konsumenten und Konsumentinnen noch in Bezug auf den öffentlichen Diskurs. Die wenigen Opium- und Morphinabhängigen waren entweder Kriegsveteranen, die mit Opiaten medizinisch behandelt wurden, oder die so genannten ‚Klassischen Morphinisten‘: Diese Personen (u.a. Ärzte und Ärztinnen, Pflegende, Apothekerinnen und Apotheker) hatten einen privilegierten Zugang zu Opiaten, versuchten aber zugleich, ihren Konsum zu verbergen.

Diese Situation änderte sich ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre grundlegend, denn nun sorgte ein völlig neuer Typus an Konsumierenden für Aufsehen: Es waren nun nicht mehr integrierte Erwachsene oder Kriegsveteranen, die ihren Konsum zu verbergen trachteten, sondern junge Menschen, die sich als Protestbewegung formierten und unter anderem mit ihrem Drogenkonsum ein öffentliches Zeichen der Rebellion gegen das etablierte Bürgertum und die "durch den Nationalsozialismus geprägte deutsche Alltagskultur ihrer Elterngeneration" setzen wollten. (Vgl. Tilmann Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, Norderstedt 2007, S. 445). Aber was die Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Symbol der Freiheit betrachteten, dramatisierten große Teile der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik zunehmend zu einem Kulturkampf: "Der allgemeine Gesellschaftskonflikt wurde am Drogenproblem festgemacht, der Konsum von Marihuana und LSD wurde zu einem Symbol des Jugendprotests und damit zu einem Sündenbock für Verwahrlosung und Sittenverfall stilisiert, so dass die Forderungen nach härteren staatlichen Sanktionen, die die Ausweitung des Drogenkonsums unterbinden sollten, immer lauter wurden." (Axel Groenemeyer, Drogen, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit, in: ders./Günter Albrecht (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Bd. 1, Wiesbaden 2012, S. 433–493, hier: S. 446f.)

Als eine der Maßnahmen des von der Bundesregierung beschlossenen "Aktionsprogramms zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht" wurde am 22. Dezember 1971 im Deutschen Bundestag das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verabschiedet, welches das Opiumgesetz von 1929 ablöste. Das neue Gesetz bezog mehr Substanzen in seinen Geltungsbereich ein, weitete die Befugnisse von Bundesgesundheitsamt sowie Bundesopiumstelle aus, erhöhte die Höchststrafen für Drogendelikte von drei auf zehn Jahre Freiheitsentzug und schränkte das Recht auf Postgeheimnis sowie das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung beim Verdacht auf Drogendelikte ein. Zehn Jahre später wurde das BtMG durch das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts reformiert, das am 1. Januar 1982 in Kraft trat und die Strafobergrenze von zehn auf 15 Jahre Freiheitsstrafe erhöhte.

Mit den beschriebenen Gesetzesänderungen hatte sich eine auf Verbote und Strafen setzende Drogenpolitik durchgesetzt. Dies gab selbstverständlich auch den therapeutischen Möglichkeiten einen bestimmten Rahmen vor.

Abstinenzparadigma und Suchthilfe

Als zu Beginn der 1970er Jahre die Zahl der Opiat- beziehungsweise Heroinabhängigen und damit auch die der Einweisungen stieg, waren die traditionellen psychiatrischen Anstalten mit dem Andrang der Drogenkonsumierenden völlig überfordert. Die Rückfallquoten wurden mit 98 bis 100 Prozent eingeschätzt.

Als Reaktion entstanden Anfang der 1970er Jahre sogenannte Release-Gruppen, die insbesondere emanzipatorische Ziele verfolgten und vor allem alltagspraktische Angebote vorhielten: Beratungs- und Kommunikationszentren, Übernachtungsmöglichkeiten, Wohn- und Werkstattkollektive, ambulante medizinische Versorgungsstellen und Kriseninterventionszentren. Allerdings stellten viele dieser Initiativen ihre Arbeit bald wieder ein, weil es ihnen an staatlich-finanzieller Unterstützung mangelte. In der Folge wurden die Release-Gruppen von den stationären Langzeittherapien abgelöst, die von Fachkliniken oder anderen spezialisierten Einrichtungen – überwiegend in der Trägerschaft der großen Wohlfahrtsverbände – angeboten wurden.

In der zweiten Hälfte der 1970er und vor allem in den 1980er Jahren waren diese Einrichtungen Bestandteil der sogenannten therapeutischen Kette; Drogenfreiheit sollte durch das Durchlaufen mehrerer Stufen erreicht werden. Diese waren: Erstens die Drogenberatung, zweitens der körperliche Entzug; drittens die stationäre, durchschnittlich 18 Monate dauernde Langzeittherapie, in der vor allem mittels verhaltenstherapeutischer Ansätze eine drogenfreie Identität aufgebaut werden sollte; und viertens die Nachsorge, das heißt die anschließende Betreuung sowie Hilfe bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche.

Allerdings gerieten die Langzeittherapien spätestens seit Mitte der 1980er Jahre in die Kritik. Ein wichtiger Punkt war dabei, dass die Betroffenen nicht mehr, wie noch in den Release-Gruppen üblich, als gleichgestellte Kollektivbewohner und -bewohnerinnen angesehen wurden, sondern nun zum "Objekt berufsmäßiger und therapeutischer Intervention" geworden waren.

Ein weiterer Kritikpunkt war das vom Gesetzgeber ausgegebene Motto "Therapie statt Strafe": Der Paragraf 35 BtMG sah vor, dass eine Gefängnisstrafe durch die Aufnahme einer Therapie umgangen werden konnte. Dies führte dazu, dass sich 70 bis 80 Prozent der Betroffenen aufgrund strafrechtlichen Zwangs in eine solche Therapie begaben, weshalb der Vorwurf laut wurde, das Schlagwort "Therapie statt Strafe" ziele eigentlich auf "Therapie als Strafe". Untermauert wurde diese Kritik durch die seinerzeit in Paragraf 36 Absatz 1 BtMG enthaltene Vorschrift, dass entsprechende staatlich anerkannte Therapieeinrichtungen sicherzustellen hätten, dass in ihnen die freie Gestaltung der Lebensführung erheblichen Beschränkungen unterliege – eine Forderung, der die Einrichtungen durchaus nachkamen: Berichtet wurde von erniedrigenden Aufnahmeritualen, Ausgangs- und allgemeinen Kommunikationsbeschränkungen, Kontaktsperren, konfrontativen Methoden, ausgeprägten Hierarchiestrukturen sowie Privilegien- und Disziplinierungssystemen.

Scharfe Kritik wurde nicht zuletzt auch an der mangelnden Effizienz der Langzeittherapien geübt. Zum einen standen den geschätzten 50.000 bis 100.000 Opiatabhängigen gerade einmal 2.000 bis 3.000 Plätze in Langzeittherapien gegenüber, zum anderen lag ihre Erfolgsquote nur bei maximal 30 Prozent. Die Selektivität dieser Hilfeform wurde auch deshalb als problematisch eingeschätzt, weil sie Hilfe insbesondere für diejenigen ausschloss, die ihr Konsumverhalten nicht verändern konnten oder wollten. Die so bezeichneten "Junkies" waren einer wachsenden sozialen und gesundheitlichen Verelendung ausgesetzt, was allerdings auch das erklärte Ziel der damaligen Drogenpolitik war: Die sogenannte Leidensdruck-Theorie ging davon aus, dass eine therapeutische Behandlung erst in dem Moment aussichtsreich sein könne, wenn in gesundheitlicher und sozialer Hinsicht ein Tiefpunkt erreicht und die Lebenssituation negativ zugespitzt sei.

Der lange Weg zur Akzeptanz

Die Kritik an dieser abstinenzorientierten und kriminalisierenden Drogenpolitik fand allerdings erst nachhaltigen Widerhall, als in der ersten Hälfte der 1980er Jahre immer deutlicher wurde, dass der intravenöse Drogenkonsum zahlreiche HIV-Infektionen bedingte: Unsterile Spritztechniken, die gemeinsame Benutzung der Spritzen (needle sharing) sowie eine im Allgemeinen desolate physische, psychische und soziale Situation machte große Teile der intravenös Drogenkonsumierenden zu prädestinierten Opfern des Virus. Mit schlichter Repression, so begannen Teile der Drogen- und Suchthilfe zu erkennen, war es nicht mehr möglich, dem Elend der Betroffenen, aber auch den Ängsten in der Bevölkerung zu begegnen: "Die Bedrohung durch AIDS wurde gewissermaßen zur Befreiung der Diskussion." (Irmgard Eisenbach-Stangl/Klaus Mäkelä/Henning Schmidt-Semisch, Gesellschaftliche Reaktionen auf Drogenkonsum und Drogenprobleme, in: Ambros Uchtenhagen/Walter Zieglgänsberger (Hrsg.), Suchtmedizin. Konzepte, Strategien und therapeutisches Management, München 2000, S. 150–161, hier: S. 159)

In den folgenden Jahren etablierte sich neben der weiterbestehenden abstinenzorientierten die sogenannte akzeptanzorientierte beziehungsweise akzeptierende Drogenarbeit. Um die Betroffenen früher und besser zu erreichen, aber auch um sie in den zu konzipierenden Behandlungs- und Beratungszusammenhängen länger zu halten, suchten Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen nun den direkten Kontakt zu den Konsumierenden. Diese den Drogengebrauch akzeptierenden Formen der Hilfe zielten konzeptionell einerseits auf die Aufhebung der Ausgrenzung, andererseits aber vor allem auch auf die Vermeidung oder Verringerung der gesundheitlichen und sozialen Verelendung: "Unter den Stichworten ‚niedrigschwellige‘, ‚suchtbegleitende‘ oder ‚akzeptierende‘ Drogenarbeit ging es neben der Absenkung zu hoher Schwellen darum, Hilfegewährung nicht mehr an einen Abstinenzwillen zu knüpfen, sondern ‚voraussetzungslose‘ Hilfe als Ergänzung zum Drogenfreiheitsparadigma zu leisten." (Heino Stöver, Drogenarbeit, in: Rudolf Bauer (Hrsg.), Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens, München–Wien 1992, S. 461–466, hier S. 465) Im Vordergrund stand die Sicherung des Überlebens der Klientel sowie die Verringerung von Risiken beim intravenösen Drogenkonsum (harm reduction). Die Angebote reichten von Aufenthalts- und Übernachtungseinrichtungen über Spritzen- und Kondomvergabe bis hin zu medizinischer Basishilfe, Rechts- und Sozialhilfeberatung sowie Krisenintervention.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begann der Widerstand der Politik, aber auch der deutschen Ärzteschaft gegen die Substitutionsbehandlung allmählich zu bröckeln. 1987 beschoss die nordrhein-westfälische Landesregierung, das erste wissenschaftlich begleitete Methadonprogramm in Deutschland einzuführen, das die positiven Erfahrungen, die man aus den USA, Großbritannien oder den Niederlanden bereits kannte, umfassend bestätigte: Die Substitution verbesserte und stabilisierte die gesundheitliche, psychische und soziale Situation der Betroffenen, verminderte das Risiko von Überdosierungen sowie von HIV- und anderen Infektionen und senkte bis zu einem bestimmten Grad auch Beschaffungsprostitution und -kriminalität. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Substitutionsbehandlung zunehmend etabliert, sodass 2019 in Deutschland 2607 substituierende Ärzte und Ärztinnen rund 79.000 gemeldete Substitutionspatienten und -patientinnen versorgten.

Die Erfolge der Substitutionsbehandlung führten bald zur Frage, ob nicht auch die Vergabe von Originalsubstanzen, also Heroin (Diamorphin) oder Morphin, hilfreich sein könnte, zumal es auch hier erfolgreiche Beispiele aus England und Holland gab. Im Mai 2009 stimmte der Deutsche Bundestag der Heroinvergabe im Rahmen der Regelversorgung und damit sogenannten Diamorphinambulanzen zu. Allerdings hat dies bis heute (noch) nicht zu einem umfassenden Angebot geführt, nur in zehn Städten finden sich entsprechende Vergabestellen, in denen allerdings nur etwa ein Prozent der Substitutionspatienten und -patientinnen in Deutschland eine Behandlung mit Diamorphin erhalten.

Eine weitere institutionalisierte Form der akzeptierenden Drogenarbeit sind die sogenannten Drogenkonsumräume (DKR). In diesen Räumen können Drogen (Heroin, Kokain, Crack und anderes mehr) unter hygienischen und kontrollierten Bedingungen konsumiert werden. Auch wenn die hier konsumierten Drogen weiterhin illegal beschafft werden müssen, werden in dem geschützten Setting Infektionen und Drogentodesfälle vermieden, der Kenntnisstand zu Risiken des Drogengebrauchs und zu Möglichkeiten eines safer use verbessert sowie die Motivation der Betroffenen, weiterführende Hilfe in Anspruch zu nehmen, erhöht. Derzeit gibt es 28 DKR in 17 Städten in acht Bundesländern.

Resümee

Das 20. Jahrhundert war drogenpolitisch betrachtet das Jahrhundert der globalen Drogenverbote. Die deutsche Drogenpolitik der 1970er und 1980er Jahre zielte auf die konsequente Verhinderung jeden Drogenkonsums und machte die dokumentierte Abstinenz zur Voraussetzung von Hilfeleistungen. Seit den 1990er Jahren etablierte sich nach und nach die akzeptierende Drogenpolitik, deren Angebote eindrücklich zeigten, dass ein Weniger an Repression und erzwungener Abstinenz ein Mehr an Gesundheit bei den Drogenkonsumierenden bewirkt. Das wiederum ist ein Ansatzpunkt unter anderen, der ebenso von Befürwortern und Befürworterinnen einer legalen Regulation von Drogen ins Feld geführt wird. Auch die Debatte über Entkriminalisierung und legale Regulierungen von Drogen wird bereits seit den 1990er Jahren geführt. Es ist zu hoffen, dass entsprechende Überlegungen die Drogenpolitik des 21. Jahrhunderts prägen.