Das Amerika, das Debra Graniks Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" (2010) zeigt, ist im US-amerikanischen Kino nur selten zu sehen. Armut wird dort noch immer überwiegend als städtisches Phänomen dargestellt - und damit primär als ein kulturelles Integrationsproblem, das mit dem Verfall der US-amerikanischen Großstädte einher geht. Graniks Independent-Film erweitert den Blick auf die Lebensverhältnisse in der reichsten Industrienation der Welt über die Großstädte hinaus und korrigiert damit auch die einseitige Darstellung der sozialen Verhältnisse, die das US-amerikanische Mainstreamkino seit den 1980er-Jahren zunehmend dominiert.

Frühes US-amerikanisches Independent-Kino

Das von Hollywood unabhängige US-Kino, das seine Filme mit einem weit niedrigeren Budget produziert, hat sich von Beginn an als prädestiniert dafür erwiesen, das filmische Bild von den gesellschaftlichen Zuständen im Land um weniger bekannte Aspekte zu bereichern. Dies war auch möglich, weil die Filmemacher/innen oftmals selbst außerhalb der ökonomischen Zusammenhänge stehen, die sie in ihren Filmen kritisieren. "Das Salz dieser Erde" (Salt of the Earth, 1954) von Herbert J. Biberman beispielsweise schildert den wahren Fall eines Streiks mexikanisch-amerikanischer Minenarbeiter. Mitte der 1960er- bis Ende der 1970er-Jahre formierte sich dann in der kurzlebigen New-Hollywood-Ära die bis heute letzte einflussreiche Gegenbewegung im Kino, die die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse herausforderte. Im pessimistischen Ende von Dennis Hoppers "Easy Rider" (1969) deutete sich bereits an, dass die gesellschaftlichen Gräben zukünftig nicht mehr entlang einer ethnischen Demarkationslinie verlaufen, sondern im Gegensatz zwischen den großen Metropolen und den strukturell benachteiligten Regionen des Landes neue Brisanz erhalten würde. Es sollte allerdings noch knapp 30 Jahre dauern, bis das US-amerikanische Independentkino auf die tiefgreifenden Veränderungen reagierte, die der wirtschaftliche Strukturwandel nicht zuletzt durch den langsamen Niedergang der traditionsreichen Schwerindustrien an der gesellschaftlichen (und geografischen) Peripherie bewirkt hatte.

Verstörende Alltagseinblicke: Gummo

In den 1990er-Jahren hielt die Bezeichnung "White Trash" (in Abgrenzung zu den so genannten "Poor Blacks") Einzug in den populären Sprachgebrauch. Die negative Konnotation des Begriffes zog im Kino schnell eine bestimmte klischeebeladene Typisierung nach sich – etwa jene, dass alle unterprivilegierten weißen US-Amerikaner in Wohnwagen lebten oder grundsätzlich Rassisten/innen seien. Harmony Korine gehörte zu den ersten Filmemachern/innen, die sich eingehender mit der amerikanischen "White Trash"-Kultur beschäftigten. Sein Film "Gummo" (1997) über eine von einem Tornado verwüstete Kleinstadt in Ohio wurde mit einem Budget von 1,3 Millionen Dollar realisiert und bedeutete formal eine bewusste Abkehr vom Betroffenheitsgestus des sozialkritischen Kinos. Auf eine zusammenhängende Geschichte verzichtet Korine zugunsten einer Aneinanderreihung von komischen und bisweilen auf lyrische Weise verstörenden Alltagseindrücken, die das Leben einer Gruppe Jugendlicher in einer amerikanischen Kleinstadt beschreiben. Nicht die schwierigen Lebensumstände stehen im Fokus des Films, sondern die Reflexion darüber, was diese sozialen Verhältnisse mit den Menschen anrichten. Gummo spielt dabei ganz bewusst mit kulturellen Stereotypen des "White Trash", offenbart jedoch gleichzeitig eine große Sympathie für seine Figuren, die sich in einem ständigen Kampf mit der strukturell bedingten Langeweile am unteren Ende des gesellschaftlichen Spektrums befinden.

Fragile Grundstimmung: George Washington

Jugendliche stehen auch im Mittelpunkt von David Gordon Greens Film "George Washington" (2000), der in einer verarmten Kleinstadt in North Carolina spielt. 42.000 Dollar kostete die Low-Budget-Produktion, gedreht wurde deshalb kostengünstig mit Laiendarstellern/innen und an Originalschauplätzen. Der Film schlägt einen dezidiert anderen Ton als "Gummo" an. Was beide verbindet, ist der Verzicht auf eine gesellschaftskritische Position. Green erzählt seine Geschichte allerdings aus der Perspektive der zwölfjährigen Nasia, was dem Film eine sehr fragile Grundstimmung verleiht: "Die Erwachsenen in meiner Stadt", äußert das Mädchen einmal, "waren niemals Kinder so wie ich und meine Freunde.” Erwachsene spielen im Film eine untergeordnete Rolle, sie stellen die verlorene Generation dar. Die Kinder kriechen beim Spielen in Häuserruinen herum, doch sie haben wenigstens noch die Hoffnung, dass ihr Leben einmal anders aussehen könnte. Green wählt ruhige, fließende Kameraeinstellungen, die lange nachwirken – so als wolle er in dem sozialen Elend eine Schönheit aufspüren, für die die Erwachsenen längst keine Augen mehr haben.

Klima des Hasses: Boys Don't Cry

Kimberley Peirces "Boys Don't Cry" (1999) beruht auf der wahren Geschichte des transsexuellen Brandon Teena (gespielt von der damals noch unbekannten Hilary Swank), der Ende der 1990er-Jahre im ländlichen Nebraska von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt und umgebracht wurde. Der Fall erregte in den Vereinigten Staaten großes Aufsehen und löste eine erbittert geführte Debatte um so genannte "Hate Crimes" aus – Verbrechen also, denen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Minderheit zum Opfer fallen. Peirce interessiert sich in ihrem Film vor allem für die jugendliche Liebe Brandons zur Kleinstadtschönheit Lana, die in solch einem Klima des Hasses und der Ignoranz auf eine harte Probe gestellt wird. "Boys Don’t Cry" beschreibt seine Figuren und ihre Lebensumstände dabei ganz ohne Herablassung. Indem Peirce der unterprivilegierten weißen Bevölkerung eine eigene Stimme zugesteht, gelingt es ihr, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Hass auf Andersdenkende schüren, zu zeigen. Dadurch stellt sie die Vorurteile, mit denen diese Bevölkerungsgruppe auch durch ihre mediale Darstellung behaftet ist, in einen sozialen und kulturellen Zusammenhang. In beiläufigen Kamerabeobachtungen schildert Peirce die latent gewalttätigen, frustrierten Jugendlichen, die aufgrund der strukturellen Ungerechtigkeit in den Vereinigten Staaten in ein Leben ohne Perspektive hineingeboren werden – ohne darüber ihre grausame Tat zu rechtfertigen.

Sozialer Abstieg: Wendy & Lucy

Wie steil das soziale Gefälle in den Vereinigten Staaten verläuft, zeigt die Regisseurin Kelly Reichardt in ihrem Film (Wendy and Lucy, 2008). Eine junge Frau strandet nach einer Autopanne mit ihren letzten Habseligkeiten und ohne Geld in einer

Wendy & Lucy

Peripher Filmverleih GmbH

dieser identitätslosen nordamerikanischen Kleinstädte, die seit Jahren dem Verfall preisgegeben sind. Der Verlust ihrer Mobilität beschleunigt ihre soziale Isolation. Ein Gefühl für diese Vereinsamung erzeugt Reichardt mit langen Einstellungen, die ihre Hauptfigur meist einsam und allein zurücklassen. "Es gibt hier wohl nicht viel zu tun", meint Wendy einmal, während sie die leeren, immergleichen Straßenzüge beobachtet. ähnelt mit seinem fast anthropologischen Blick Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone". Beide Filme beschreiben durch die Augen eines jungen Mädchens, wie Menschen sich notgedrungen mit Orten und Milieus arrangieren. Der Nordwesten Amerikas und die Wälder der Ozark-Mountains könnten auf dem ersten Blick verschiedener nicht sein. Sie sind jedoch beide geprägt von einer sozialen Realität, die mit dem US-Amerika im Hollywood-Kino nur wenig zu tun hat.