Debra Granik wurde 1963 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Sie studierte Politik an der Brandeis University und der Edinburgh University. Zudem besuchte sie das Graduate Film Program an der New York University. Nach "Down to the Bone" (USA 2004) ist Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" ihr zweiter abendfüllender Spielfilm, für den sie unter anderem beim Sundance Film Festival den Großen Preis der Jury gewann und 2011 für den Oscar nominiert war.

Frau Granik, Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Daniel Woodrell. Was hat sie an der Verfilmung gereizt?

Mich hat Ree fasziniert, die jugendliche Protagonistin. Woodrell erzählt ihre Geschichte mit viel Spannung. Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Ständig habe ich mir Sorgen um sie gemacht. Und weil ich gerade auf der Suche nach einem Filmstoff war, habe ich mich dann für dieses Buch entschieden.

Wie Woodrells Roman spielt auch Ihr Film in den Ozark Mountains in Missouri. Sie haben sich nicht nur entschieden, am Originalschauplatz zu drehen, sondern auch die lokale Bevölkerung, ihre Häuser und Kleidung, in den Film einzubeziehen. Warum?

Anders hätte ich Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" nicht machen können. Ich kann die Menschen dort und ihre Umgebung nicht imitieren.

Wie genau haben Sie sich an die Buchvorlage gehalten?

Sehr genau. Ich habe lediglich die Story mit der Wirklichkeit vermischt. Ich nenne das visuelle Anthropologie. Es geht darum, die Details der Geschichte zu erforschen. Ich musste ein Mädchen finden, das genauso alt ist wie Ree. Wie zieht sie sich an und wie verhält sie sich? Oder warum gehen so viele Jugendliche aus dem Mittleren Westen zur Armee? Ich musste Menschen finden, die mir erzählen, was ich nicht wissen kann, weil ich in New York lebe. Deshalb habe ich auch Laiendarsteller gesucht, die im Film fast dasselbe tun wie im realen Leben, zum Beispiel auf die Jagd gehen. Auf diese Weise wollte ich so dicht wie möglich an reale Erfahrungen herankommen.

Wie haben Sie es geschafft, dass die professionellen Schauspielerinnen und Schauspieler ebenso authentisch wirken?

Jennifer Lawrence zum Beispiel, die Ree spielt, war sehr offen: Sie hat ihrer kleinen Filmschwester Ashley viele Fragen gestellt – schließlich wohnten die beiden im Film in Ashleys tatsächlichem Elternhaus. Wie viele andere Schauspieler in Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" kommt sie außerdem aus den Südstaaten, aus Kentucky. Das hat bei der Verständigung und beim Erlernen der lokalen Sprechweise enorm geholfen.

Ree, die Protagonistin, ist ein typisches Mädchen aus den Ozark Mountains. Was können junge Menschen von ihr lernen?

Dass du deinen eigenen Weg gehen kannst. Das Schicksal deiner Eltern ist nicht automatisch deines – du kannst etwas ändern. Außerdem ist sie eine spannende Person, obwohl ihre Geschichte – im Gegensatz zu derer vieler Teenie-Mädchen in anderen Filmen – nichts mit Sexualität zu tun hat.

Wie authentisch ist das USA-Bild, das Sie in Zum Filmarchiv: "Winter’s Bone" zeichnen?

Extreme Armut gibt es überall in den USA, in jedem Staat. Das ist sicherlich etwas, das Europäer überrascht, denn Hollywood-Filme führen diesbezüglich in die Irre. Sie zeigen außergewöhnliche Menschen, Spione oder wohlhabende Swimming-Pool-Besitzer. Ich hingegen erzähle von gewöhnlichen Menschen und ihrem Überlebenskampf. Darin liegt für mich die Schönheit – in der Poesie des Alltäglichen.

Sehen Sie sich in einer bestimmten filmischen Tradition?

Ich habe Vorbilder auf beiden Seiten des Atlantiks, im italienischen Neorealismus, im US-amerikanischen Independent-Kino der siebziger Jahre, im britischen Realismus. Auch die Filme von Laurent Cantet beeindrucken mich, zuletzt .

Was tut sich aktuell in der US-Filmbranche für unabhängige Filmschaffende?

Hollywood ist wie eine Dampfwalze, die rollt und rollt, eine Riesenindustrie. Der Nachteil ist: Die Studios können sich im Unterschied zu uns unabhängigen Filmemachern nicht einfach ein Jahr frei nehmen, um nachzudenken. Das ist unser Vorteil. Und das Wunderbare ist, wir bekommen aus Europa viel Zuspruch für unsere Filme. Das finanziert sie zwar noch lange nicht, aber das gibt dir Vertrauen in das, was du machst.