"Ich habe den Schwarm zusammengerufen", verkündet Claudius, Vater von Jungstorch Max, als die Eiche ihr erstes Blatt abgeworfen hat. Alle Störche wissen, dass es an der Zeit ist, in den Süden zu ziehen. Als der nichtsahnende kleine Spatz Richard anderntags aufwacht, ist er alleine im Nest. Er ruft verzweifelt nach seinen Zieheltern und sieht dann weit in der Ferne die Familie davonfliegen. Es blitzt und donnert, dunkle Wolken toben über dem Himmel, Sturmböen zerzausen das Gefieder von Richard, es schüttet wie aus Eimern. Und die Störche verschwinden am Horizont.

Tatsächlich machen sich Störche jedes Jahr auf den Weg in den Süden – allerdings starten die Ersten bereits ab Mitte August, also bevor die Eiche ihre ersten Blätter verliert. Schon Wochen vor dem Abflug werden die Vögel immer unruhiger und beginnen, regelmäßig Proberunden zu drehen. Forscher/-innen nennen das "Zugunruhe". Sie wird durch die kürzer werdenden Tage ausgelöst.

Auf warmen Winden in den Süden

Dann geht es los. Aber nicht wie im Film Zum Filmarchiv: "Überflieger – Kleine Vögel, großes Geklapper" im großem Trupp mit der ganzen Familie. Nein. Die Jungvögel starten rund zwei Wochen vor den Altvögeln. Und auch die Altvögel fliegen nicht gemeinsam, sondern jeder für sich. Max wäre also bei seinem ersten Flug in den Süden auf sich gestellt. Die Reise ist lang und gefährlich und viele Jungvögel überleben sie nicht – auch weil sie noch unerfahren sind.

Überflieger – Kleine Vögel, großes Geklapper, Szene (© 2017 Wild Bunch Germany)

Dennoch würde der junge Storch Max eines im wahren Leben nicht machen: bei Gewitter losfliegen, so wie es seine Familie im Film tut. Störche sind nämlich Segelflieger, die Sonne ist ihr wichtigster Gehilfe. Ihre Strahlen erwärmen den Boden und die Luft darüber. Da warme Luft leichter und weniger dicht als kalte Luft ist, steigt sie auf. Die kreisförmig aufsteigende Luft nennt man Aufwind. Von diesen Aufwinden lassen sich Störche in die Höhe tragen. Das kostet sie kaum einen Flügelschlag. Wenn die warme Luft sich auf die Umgebungstemperatur abgekühlt hat, gleiten sie im Segelflug in Zugrichtung weiter. Manchmal erreichen sie dabei Geschwindigkeiten von bis zu 80 Kilometern pro Stunde! Den nächsten Aufwind nutzen Störche dann wieder, um an Höhe zu gewinnen. Ist es kalt und regnerisch, entstehen diese Aufwinde nicht. Max, seine Mutter Aurora und sein Vater Claudius würden im wahren Storchenleben also an einem wolkenlosen, sonnigen Tag aufbrechen.

Zwei Routen nach Afrika

Aber wieso fliegen Störche überhaupt in den Süden, wenn die Reise so gefährlich ist? Im Film erklärt Claudius, dass es Störchen im Winter zu kalt in Deutschland ist. Die Kälte aber ist nicht das Problem. Sie finden einfach nicht genug Futter, vor allem wenn es klirrend kalt ist und viel schneit. Mittlerweile gibt es zwar einige Störche, die das ganze Jahr über hier verbringen und überleben, die meisten aber fliegen im Herbst immer noch in ihre Winterquartiere: die einen über die sogenannte Ostroute, die anderen über die Westroute. Der Großteil der Störche fliegt entlang der Ostroute über den Bosporus in der Türkei, den Nahen Osten bis in den Sudan und von dort weiter nach Tansania in Ostafrika und sogar bis nach Südafrika.

Max und seine Familie gehören zu den sogenannten Westziehern. Sie segeln über Frankreich und Spanien, überqueren dann die schmale Mittelmeerenge bei Gibraltar und die Wüste Sahara, um schließlich ihr Winterquartier zu erreichen. Forscher/-innen haben in den letzten Jahren beobachtet, dass immer mehr der "Westzieher" auf Müllhalden in Südspanien überwintern. Auf den riesigen, stinkigen Müllbergen finden Störche jede Menge Fleisch- und Fischreste. Außerdem wimmelt es hier nur so von leckeren Tierchen wie Mäusen und Insekten. Ein Schlaraffenland für Störche – wenn auch ein gefährliches: Sie können sich in Plastiktüten verhaken, sich an Drähten verletzen, Gummiteile mit Schlangen verwechseln und fressen, und Krankheiten bekommen.

Störche mit eingebautem Kompass

Der Jungstorch Max und seine Eltern gehören nicht zu den Störchen, die auf einer spanischen Müllhalde hängen bleiben. Sie nehmen den ganzen Weg nach Afrika auf sich. Richard, der ihnen folgt, steht vor einer großen Herausforderung: Welcher Weg führt wohl nach Süden? Im Gegensatz zu Spatzen kennen Störche den Weg genau. Die Zugroute ist ihnen angeboren. Sie brauchen keinen Kompass und keine Landkarte. Ihr Kompass ist sozusagen genetisch eingebaut. Er verrät ihnen, ob sie in Richtung "Pol" oder in Richtung "Äquator" fliegen. Darüber hinaus orientieren sich Störche an dem Stand der Sterne und der Sonne, aber auch an Gebirgen, Flussläufen und Meeresengen. Jungvögel merken sich bei ihrer ersten Reise ihre Rastgebiete und bestimmte Orientierungspunkte genau und vergessen diese ihr ganzes Leben nicht mehr.

Anders als Spatzen: Sie sind sogenannte Standvögel und bleiben das ganze Jahr über in ihren Brutgebieten, immer in der Nähe ihres Brutplatzes. Kein Wunder also, dass Richard keine Ahnung hat, wo er entlangfliegen muss, um in den Süden zu kommen. Er ist im Gegensatz zu den reiselustigen Störchen im echten Leben ein richtiger Stubenhocker.