Kategorie: Interview
"Wenn man Hilfe braucht, gibt es für jeden Hilfe"
Suchtberaterin Magda Bittner über Alkoholabhängigkeit bei jungen Menschen
Die Diplom-Sozialpädagogin Magda Bittner arbeitet seit 2020 als Beraterin bei Zum externen Inhalt: HaLT – Hart am Limit (öffnet im neuen Tab). Das Früh- und Kurzinterventionsprojekt richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 21 Jahre mit riskantem Alkohol- oder Drogenkonsum. Anlässlich des Kinostarts von Zum Filmarchiv: "The Outrun" (Nora Fingscheidt, GB/DE 2024) hat kinofenster.de mit der Berlinerin über das Problem der Alkoholsucht speziell bei jungen Frauen gesprochen.
kinofenster.de: Rona, die Hauptfigur im Film "The Outrun" , trinkt beim Ausgehen und beim Feiern und rutscht dann in die Abhängigkeit. Inwiefern ist ihr Weg typisch für eine Suchtgeschichte?
Magda Bittner: Natürlich gibt es ganz viele unterschiedliche Verläufe, aber der im Film erzählte Verlauf ist absolut realistisch. Rona trinkt nicht bewusst, um irgendetwas zu verdrängen – sie merkt einfach, es tut ihr gut, unterwegs zu sein, Party zu machen. Es ist ganz typisch, dass das unbewusst läuft, bis man irgendwann merkt: Man kann nicht mehr ohne den Alkohol. Auch das Ringen danach ist realistisch – die Vorstellung: "Ich kann mir kein Leben ohne Alkohol vorstellen". Ronas Weg zeigt der Film mit viel Dramatik. Es gibt aber auch leichtere Wege in die Sucht, das ist wichtig, das mitzudenken.
kinofenster.de: Welche Rolle spielt Alkohol im Leben von Jugendlichen?
Magda Bittner: Die meisten Jugendlichen probieren das erste Mal im Alter von 14 bis 15 Jahren Alkohol, sie orientieren sich an der Welt der Erwachsenen. Alkohol hat in unserer Gesellschaft einen festen Platz. Statistisch gesehen haben Jugendliche in dem Alter auch ihren ersten Rausch. Bei den einen bleibt es beim Probierkonsum, bei anderen nimmt es eine andere Rolle ein. Vor allem wenn persönliche Schwierigkeiten aufkommen, ist der Weg in eine Sucht geebnet.
kinofenster.de: Ab wann ist man alkoholkrank oder Alkoholiker/-in?
Magda Bittner: Die etablierten Kriterien für eine Diagnose beziehen sich auf Erwachsene. Wir gehen von sechs Kriterien aus, wenn drei davon innerhalb von einem Jahr auftreten, sprechen wir in der Theorie von Abhängigkeit. Bei Jugendlichen geht es allerdings schneller. Das Gehirn ist noch in der Entwicklung, Jugendliche können innerhalb von ein paar Monaten, einem halben Jahr abhängig werden.
kinofenster.de: Was sind diese Kriterien?
Magda Bittner: In der Gesellschaft wird oft die Meinung vertreten, wer jeden Abend ein Bier trinkt, sei alkoholabhängig. Entscheidend ist jedoch vor allem der Kontrollverlust. Kontrollverlust bedeutet: Ich kann die Menge nicht mehr kontrollieren. Ich plane, ein Glas Rotwein zu trinken, einen Joint zu rauchen, schaffe es aber nicht, das mit meiner Disziplin einzuhalten. Stattdessen trinke ich die ganze Flasche oder rauche mehrere Joints. Dann geht es um den Kontrollverlust in Bezug auf den Zeitpunkt. Wenn ich mir vornehme, nur nach getaner Arbeit, nach getaner Verpflichtung ab 18 Uhr zu konsumieren und dann doch vor der Schule, vor der Arbeit, während der Pause trinke, dann ist das ein Kontrollverlust. Dann gibt es die Toleranzentwicklung, also zu merken, ich brauche immer mehr um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Wenn ich weniger trinke oder ganz aufhöre und Entzugssymptome habe, also sich schon eine körperliche Abhängigkeit gebildet hat, wenn ich andere Dinge wie Freunde, Hobbies vernachlässige und das bewusst in Kauf nehme. Das letzte Kriterium ist das starke Verlangen, eine Art Zwang, konsumieren zu müssen. In "The Outrun" ist das auch ganz deutlich zu sehen, als Rona einmal nach Hause kommt, ins Bad geht und ein paar Schlucke aus der Flasche nimmt, die sie zuvor im Badezimmer versteckt hatte. Sie braucht das unbedingt, bevor sie ihren Alltag weiterleben kann.
kinofenster.de: Inwiefern unterscheidet sich die Bedeutung von Alkoholkonsum für Jugendliche vom Konsum anderer Drogen?
Magda Bittner: Alkohol ist gesellschaftlich akzeptierter als andere Drogen. Von der Funktionsweise gibt es wenig Unterschiede. Natürlich haben Drogen unterschiedlich hohes Suchtpotenzial. Von der einen Droge wird man schneller abhängig als von der anderen. Aber wenn eine Person es als Bewältigungsstrategie einsetzt, macht das erst mal fast keinen Unterschied. Cannabis oder Alkohol nehmen sich in der Hinsicht nicht so viel. Außer, dass der Alkoholkonsum für Jugendliche einfacher ist, weil er eben gesellschaftlich akzeptierter ist.
kinofenster.de: Alkoholsucht wird oft als männliches Problem wahrgenommen. Allerdings weisen in Deutschland auch 14,3 Prozent der Frauen (Quelle: Zum externen Inhalt: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (öffnet im neuen Tab)) nach Selbstangaben einen gesundheitlich riskanten Alkoholkonsum auf. Welche besonderen Risikofaktoren gibt es für Frauen?
Magda Bittner: Frauen haben grundsätzlich durch Alkoholkonsum ein höheres Risiko, Gewalt zu erfahren, weil Frauen und junge Mädchen per se mehr von Gewalt betroffen sind in unserer Gesellschaft. Wenn sie sich auch noch durch den Konsum in einen hilflosen Zustand bringen – und das berichten unsere Jugendliche oft, mit denen wir Kontakt haben –, dann ist das Risiko um ein Vielfaches höher, Opfer von Gewalttaten zu werden. Ganz allgemein wird es zudem weniger toleriert, als weiblich gelesene Person in der Öffentlichkeit betrunken zu sein.
kinofenster.de: Welche gesellschaftlichen Probleme entstehen, wenn man offen mit seiner Abhängigkeit umgeht? Inwieweit sind Frauen und Mädchen anders davon betroffen?
Magda Bittner: Abhängigkeit gilt seit 1968 als Krankheit, dennoch herrscht in der Gesellschaft immer noch das Vorurteil vor: "Ja, Mensch, lass es doch. Trink doch einfach nicht." Das kann zu viel Diskriminierung führen, sich offen dazu zu bekennen. Nach dem Motto: "Du hast es doch selbst in der Hand, setzt die Flasche halt einfach nicht an." Und wenn ich jetzt auf die Geschlechterrollen schaue, ist es immer noch so, dass von weiblich gelesenen Menschen mehr Anpassung erwünscht ist. Männer dürfen auch mal wütend oder aggressiv sein. Frauen sind dann gleich hysterisch. Sie werden dafür schneller verurteilt oder erleben mehr Diskriminierung als männlich gelesene Personen, weil es einfach in der Gesellschaft weniger anerkannt ist.
kinofenster.de: Wo kann man Hilfe bekommen?
Magda Bittner: Das Angebot für Jugendliche ist viel reduzierter als das für Erwachsene. In Berlin zum Beispiel gibt es nur einen Ort für Jugendliche, an dem ein Entzug möglich ist. Beratungsstellen gibt es in jedem Bezirk. Deutschlandweit ist das Angebot an Suchtberatungsstellen nicht so dicht, vor allem nicht in den ländlichen Regionen. Da gibt es immer Fahrtwege. Zum Glück wird aber gerade die Online-Beratung ausgebaut. Zum externen Inhalt: DigiSucht (öffnet im neuen Tab) zum Beispiel. Da steckt zwar schon "Sucht" mit im Titel, aber dort dürfen sich auch junge Menschen melden, die einfach riskant konsumieren. Wenn man Hilfe braucht, gibt es für jeden Hilfe.
kinofenster.de: In "The Outrun" spricht Rona mit einem Mann, der ebenfalls abhängig ist. Er sagt: "Es bleibt immer schwierig, aber es wird einfacher." Was sind die Voraussetzungen, um trocken zu werden und bleiben?
Magda Bittner: In dieser Zum Inhalt: Szene habe ich auch ein bisschen geschluckt, denn aus Erfahrung weiß ich, dass es deutlich einfacher wird. Insofern fand ich es schade, dass nur das transportiert wurde und nicht noch eine andere Stimme, die sagt: "Nein, es kann auch anders sein." Man sagt in der Regel, es braucht so zwei Jahre – dann hat man alle Festivitäten zweimal durch: Geburtstag, Heiligabend und Silvester. Wenn das gut überstanden ist, dann ist es auch normal, nichts mehr zu konsumieren. Bei den Voraussetzungen geht es darum, an die Wurzel zu gehen, warum konsumiert wurde, warum das Suchmittel eingesetzt wurde und warum die Menschen abhängig geworden sind. Zu gucken: Ging es um Stress, ging es um unangenehme Gefühle aufgrund von familiären Situationen, so wie in "The Outrun" ? Zu erkennen, zu verstehen, für was Alkohol als Strategie eingesetzt wurde und dann eine andere Strategie zu wählen. Es geht nicht um fehlende Disziplin. Es geht wirklich darum zu schauen, warum, für welchen Zweck der Alkohol eingesetzt wurde und was dann als Alternative dienen kann.
kinofenster.de: Vielen Dank für das Gespräch.