Mit ihrem eindrucksvollen Debütspielfilm "Systemsprenger" (DE 2019) über ein schwer erziehbares Mädchen hat Regisseurin Nora Fingscheidt national und international große Erfolge gefeiert. Zum Filmarchiv: "The Outrun" (GB/DE 2024) ist ihr dritter abendfüllender Zum Inhalt: Spielfilm, nach "The Unforgivable" (GB/DE/USA 2021) erneut eine internationale Koproduktion, diesmal mit der irisch-US-amerikanischen Schauspielerin Saoirse Ronan in der Hauptrolle. Fingscheidt lebt und arbeitet in Berlin.

Wichtiger Hinweis:

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In ihrem ersten Kinofilm seit dem Sensationserfolg "Systemsprenger" erzählt die Regisseurin Nora Fingscheidt in "The Outrun" die Geschichte der alkoholabhängigen Rona. Nach den Memoiren der schottischen Journalistin und Autorin Amy Liptrot hat Fingscheidt das Zum Inhalt: Drehbuch gemeinsam mit Liptrot geschrieben. Mein Name ist Anna Wollner und ich habe für kinofenster.de während der Berlinale mit Nora Fingscheidt gesprochen und sie gefragt, wie der Stoff von "The Outrun" zu ihr gefunden hat.

Nora Fingscheidt: Die Produzentin Sarah Brocklehurst hat mir das Buch geschickt. Damals war aber Saoirse Ronan als Hauptdarstellerin und Produzentin auch schon bei dem Projekt dabei. Und so habe ich dann dieses Buch gelesen, das zwar eigentlich Tagebücher sind, aber mit Saoirse schon im Kopf. Und das war natürlich irgendwie eine total seltsame Mischung aus Fiktion und Realität. Und das blieb es auch bis zum Ende.

kinofenster.de: Und was hat dich angesprochen? Also warum hast du trotz dieser Kombination gesagt: Das mache ich?

Nora Fingscheidt: Einmal natürlich gerade wegen der Kombination. Und andererseits hat mich diese Heilungsgeschichte so berührt. Also für mich ist es gar nicht unbedingt ein Film über Sucht, sondern es ist wirklich über Heilung und wie schwer das sein kann, das Leben wieder zu genießen und Sinn zu finden, wenn man sich das einmal so zerstört hat. Und gleichzeitig hat das Buch aber auch so eine Sehnsucht in mir ausgelöst, nach Europa zurückzukommen, dann ans Ende der Welt, in diese einsamen Orte, in die man sonst nie kommen würde. Ja, das hatte viele verschiedene Gründe.

kinofenster.de: Ihr habt auf den Orkney-Inseln gedreht, das ist ganz im Norden von Schottland. Dort zu drehen, muss unglaublich gewesen sein. Also einmal die Logistik auf einer wirklich abgelegenen Insel und dann sich trotz der Schönheit der Natur auf die Arbeit zu konzentrieren. Wie war das?

Nora Fingscheidt: Das war total speziell, weil wir die Natur wie eine Kollegin in das Ganze einbeziehen mussten. Wir mussten hinfahren, wenn die Lämmer geboren werden. Wir mussten hinfahren, wenn die Vögel nisten. Wir mussten hinfahren, wenn die Robben gerade da sind. Wir mussten noch mal hinfahren, wenn es schneit. Also wir sind quasi immer wieder gekommen und gegangen. Als wir den Hauptdreh da hatten, mussten wir uns natürlich auch den Drehplan immer so flexibel halten, dass wir reagieren konnten. Ist es morgen windig? Scheint die Sonne? Wird es regnen? Was brauchen wir gerade für die Geschichte? Okay, alle mussten immer mindestens drei Möglichkeiten parat haben, was am nächsten Tag gedreht wird. Und deshalb war das von Anfang bis Ende eine sehr schöne Symbiose mit der Natur.

kinofenster.de: Wie habt ihr das gemacht? Also Wind, Wellen etc. kann man ja nicht auf Knopfdruck bestellen. Und jeder Drehtag kostet Geld.

Nora Fingscheidt: Da braucht man eben einen Alternativplan. Also es gab immer Plan A, B, C. Was drehen wir morgen? Und so zog sich das durch bis zum Ende. Und irgendwann wurden wir natürlich nervös, weil zu viel die Sonne geschienen hat. Und wir brauchten auch eine gewisse Rauheit der Natur und gleichzeitig durfte es auch nicht zu windig sein, weil sonst wird es irgendwann gefährlich, wenn man zu nah an die Klippen geht. Aber irgendwie ist es gut ausgegangen.

kinofenster.de: Was ich ganz toll fand, war der Rhythmus des Films, dieses immer wieder nach vorne, zurück – ein bisschen, ohne jetzt zu viel vorwegnehmen zu wollen, ablesbar an dem ausgewachsenen Grad der Haare. Wie hast du die Struktur des Films entwickelt? Wie ist sie entstanden?

Nora Fingscheidt: Das Buch springt noch viel mehr hin und her. Dadurch, dass das wirklich wie assoziatives Tagebuchschreiben ist, geht das Buch vor und zurück und im Kreis. Und so sind halt auch Gedanken. Und wir wollten eben eine Struktur schaffen, die am Anfang diese Verlorenheit widerspiegelt. Da ist sie zwar auf Orkney und soll jetzt irgendwie klarkommen, aber gleichzeitig hängt sie gedanklich noch in der Vergangenheit und in der Zukunft. Und was mache ich jetzt eigentlich hier? Und mit ihr kommt der Film am Ende zur Ruhe und die Geschichte wird immer linearer und linearer. Aber die erste Hälfte ist natürlich völlig durcheinander erzählt und man kann entweder emotional einfach mitgehen und man denkt nicht drüber nach und dann funktioniert es auch irgendwie. Oder man versucht halt anhand der Haarfarben herauszufinden, wo man gerade ist. Und dann hoffe ich, dass es auch nicht zu sehr ablenkt.

kinofenster.de: Du hast eben gesagt, es ist für dich eher ein Film über Heilung als über eine Sucht. Aber was ich trotzdem ganz toll fand in dem Film, war die Darstellung der Exzesse – dass du ja wirklich nichts beschönigst und durch diese Schärfenverschiebungen, Blitze … Wie würdest du es beschreiben?

Nora Fingscheidt: … rauschhaftes Kino …

kinofenster.de: … durch dieses rauschhafte Kino, das macht mit einem etwas beim Gucken. Es gibt so viele Filme, wo das halt einfach linearer dargestellt wird, und ich fand das einen total sinnvollen Ansatz. Was hast du über Sucht recherchiert und wie hast du das dann versucht im Film umzusetzen?

Nora Fingscheidt: Recherche war für diesen Film nicht notwendig, dadurch, dass ich Amy an meiner Seite hatte. Es ist ihre Geschichte und ihr Leben. Dadurch war die Recherche die Auseinandersetzung mit Amy und die jahrelange Begleitung. Und gleichzeitig haben wir natürlich versucht, alle Leute so original wie möglich zu besetzen. Da sind ganz viele Leute vor der Kamera, die noch nie in ihrem Leben vorher vor der Kamera standen, aber die ihre Geschichte eben miterzählen, sei es Calum auf Papay oder eben die ganze Rehab Group. Ich wollte den Film so dicht wie möglich aus Ronas Perspektive erzählen, aus ihrer Erinnerung, aus ihrem Seelenleben. Also wirklich eine innere Reise beschreiben über eine Frau und einen Ort und ihre Vergangenheit. Und deshalb war uns das wichtig, dass man London natürlich erst wie so einen schönen, warmen Sehnsuchtsort erzählt. Im Gegensatz zu einem eher düsteren, langweiligen Orkney. So, wie sie es empfindet. Aber dass sich dann die Erinnerung an London, je ehrlicher sie wird, umso mehr verzerrt und verschwimmt, so wie ihre Erinnerungen sind. Ich meine: An was erinnert man sich von einem Vollrausch? An Fragmente und Situationen. Und deshalb haben Yunus Roy Imer [der Kameramann, Anm. d. Red.] und ich da eben viel experimentiert – auch im Vorfeld, zusammen auch mit unserem Editor Stefan Bechinger, über [die Frage]: Wie können wir diesen Rausch darstellen, ohne eben ins Klischee zu verfallen und trotzdem so eine audiovisuelle Erfahrung für das Publikum zu schaffen?

kinofenster.de: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.