Jan Künemund arbeitet als freier Publizist in Berlin und ist beim Filmverleih Edition Salzgeber für Presse- und Textarbeit zuständig. Seit 2009 gibt er das Queer-Cinema-Magazin „Sissy“ heraus. Nebenbei unterrichtet er als Dozent am Institut für Medien, Theater und populäre Kultur der Universität Hildesheim im Bereich „Queer Cinema“.

Herr Künemund, homosexuelle Rollen wie die Alan Turings gelten heute ja fast als Garant für eine Oscar-Nominierung. Hilary Swank in Zum externen Inhalt: Boys don’t Cry (öffnet im neuen Tab), Jake Gyllenhaal in Zum externen Inhalt: Brokeback Mountain (öffnet im neuen Tab) oder Philipp Seymour Hoffman in Zum externen Inhalt: Capote (öffnet im neuen Tab) begründeten ihre Karrieren auf solchen Rollen.

"Boys don’t Cry" und "Brokeback Mountain" waren allerdings Independent-Produktionen mit sehr komplizierten Entstehungsgeschichten. Im Fall von „Brokeback Mountain“ bedurfte es sogar eines einflussreichen Produzenten wie James Schamus, der aus dem Umfeld des unabhängigen „New Queer Cinema“ der frühen 1990er-Jahre kommt, um den Film zu realisieren. Im Prinzip wurden bis zu seinem Ausstieg im vergangenen Jahr fast alle größeren Filme mit einer homosexuellen Thematik, auch "The Kids Are All Right" mit Julianne Moore, von Schamus und seiner Produktionsfirma Focus Features finanziert.

In der klassischen Hollywood-Ära mussten homosexuelle Erzählstrategien noch subtil eingesetzt werden. In Roy Epsteins Dokumentation "The Celluloid Closet" wird erzählt, wie "Ben Hur" -Regisseur William Wyler seinem Hauptdarsteller Stephen Boyd während der Dreharbeiten erklärte, dass er einen Treueschwur gegenüber Charlton Hestons Ben Hur wie eine Liebeserklärung spielen sollte, ohne seinen Mitspieler einzuweihen. Sieht man sich die Szene heute mit diesem Wissen an, bekommt der Dialog eine deutlich homoerotische Konnotation.

Es war von Beginn an ein Hollywood-Phänomen, dass einerseits viele Schwule und Lesben in der Traumfabrik beschäftigt waren – ob als Drehbuchautorinnen, Kostümbildner, Regisseure oder Schauspieler und Schauspielerinnen –, „ihre“ Geschichten aber aufgrund des Hays-Codes nicht erzählen werden konnten. Der Hays-Code war eine für die Entwicklung des amerikanischen Kinos einflussreiche Zensurmaßnahme der religiösen Lobby, die zwischen den Jahren 1930 und 1968 vor allem die Darstellung von Gewalt und Sexualität stark reglementierte. Tatsächlich wurde das Thema Homosexualität selbst in den späten 1960er-Jahren, als der Code kaum noch Beachtung fand, von den Studios tabuisiert.

Konnte eine homosexuelle Sensibilität im klassischen Hollywood-Kino nur subversiv erzählt werden?

Es gab schwule Regisseure wie Vincente Minnelli oder Nicholas Ray, die ein starkes Interesse daran zeigten, das vorherrschende Männerbild auszudifferenzieren. Ray hat etwa in "… denn sie wissen nicht, was sie tun" mit James Dean eine völlig neue Form von Männlichkeit im Kino eingeführt: Gebrochene, weiche, darin aber rebellische Männerfiguren zu zeigen, war zu dieser Zeit eine queere Strategie. Wie bewusst das war, lässt sich rückblickend schwer sagen, da darüber nie offen gesprochen wurde.

Welche Rolle spielte Flamboyanz als Methode? Stars wie Marlon Brando und Al Pacino haben früh mit gebrochenen Männlichkeitsbildern gespielt.

Für Brando gehörte es zu seinem schillernden Image, mit ambivalenten Rollenmodellen zu spielen. Innerhalb von Hollywood war Homosexualität kein Geheimnis, man durfte es eben nur nicht an die Öffentlichkeit tragen. Brando spielte ja auch viel Theater, wo mit dem Thema wesentlich offener umgegangen wurde. Stars wie Brando waren aber absolute Ausnahmeerscheinungen. Als Absolvent der Method-Acting-Klasse Lee Strasbergs gehörte es zum Anforderungsprofil, sich mit solchen extremen Rollen zu schmücken. Zu dieser Zeit, und das hat großenteils bis heute Gültigkeit, wie auch Zum externen Inhalt: The Imitation Game (öffnet im neuen Tab) wieder zeigt, gab es für schwule Figuren nur zwei Rollenmodelle: als tuntige Witzfiguren oder tragische Existenzen, die zum Tode verdammt sind. Auch darum waren diese Rollen für bekannte Schauspieler lange Zeit uninteressant.

Hat die Vorarbeit des amerikanischen „New Queer Cinema“ damit zu tun, dass homosexuelle Rollen im Hollywood-Kino heute für Schauspieler und Schauspielerinnen attraktiver sind?

Es ist sicher kein Zufall, dass viele bekannte Darsteller/innen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, ihre ersten größeren Rollen in Filmen aus dem Umfeld des „New Queer Cinema“ gespielt haben. River Phoenix in Gus Van Sants "My Private Idaho" , Hilary Swank in "Boys don't Cry" , Joseph Gordon-Levitt in "Mysterious Skin" von Araki. Man muss sich nur einmal ansehen, was die Darstellung des schwulen Cowboys für einen heutigen A-Darsteller wie Gyllenhaal bewirkt hat. Das war durchaus eine riskante Rolle, denn es geht ja weniger darum, dass Schauspieler eine schwule Rolle spielen, sondern wie sie diese spielen – ob also die körperliche Ebene einer homosexuellen Beziehung, die Lust am Sex, gezeigt wird. Und das wurde in "Brokeback Mountain" ja ausführlich inszeniert. Damals war Gyllenhaal noch nicht bekannt. Man kann die Wahl der Rolle demnach als Karriere-Schachzug sehen, der ihn zum A-Star beförderte. Solche expliziten Darstellungen bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals aber als böses Gerücht hängen. Für Gyllenhaal wäre es mit seinem heutigen Status viel „gefährlicher“, solch eine Rolle anzunehmen. Man kann das auch daran erkennen, dass er sich seit "Brokeback Mountain" auf virile Rollen festgelegt hat.

Im vergangenen Jahr wurde von Transgender-Aktivisten kritisiert, dass Jared Leto als heterosexueller Schauspieler in Zum externen Inhalt: Dallas Buyers Club (öffnet im neuen Tab) einen Transsexuellen darstellt. Woher kommen diese Vorbehalte?

Identitätspolitik spielt eine wichtige Rolle, nach dem Motto: Wer hat das Recht, unsere Geschichten zu erzählen? Und wie? Natürlich ist die Vorstellung, dass nur transsexuelle Schauspieler transsexuelle Figuren darstellen dürfen, absurd. Andererseits muss man auch sehen, dass viele homosexuelle Darsteller nach ihrem Outing nur noch für gewisse Rollen in Frage kommen – also etwa nicht mehr für die Figur des heterosexuellen Liebhabers. Das wäre unglaubwürdig. Ist es andersrum, kann man dagegen einen Oscar gewinnen.

Wichtiger Hinweis:

New Queer Cinema
1992 prägte die feministische Filmtheoretikerin und Publizistin B. Ruby Rich den Begriff "New Queer Cinema" für eine neue Generation von Filmemacher/innen im amerikanischen Independentkino, die sich verstärkt schwulen und lesbischen Themen widmen und in ihren Filmen die Auflösung von hetero-normativen Sexualvorstellungen betreiben. Die Produzentin Christine Vachon (Velvet Goldmine, Boys don't Cry) und der Regisseur Gregg Araki (Totally Fucked Up, The Doom Generation) gelten als die wichtigsten Protagonisten der Bewegung. Der Begriff "New Queer Cinema" beschreibt keine feste Szene, unter dem Label versammeln sich stilistisch ganz unterschiedliche Filmemacher/innen, die jedoch ähnliche Ideen und Ziele verfolgen.