"Ich war politisch überhaupt nicht engagiert."
Regina Brandt (61) aus Ostberlin

Aufgewachsen ist Regina Brandt in Brandenburg an der Havel. Nach einer Eisenbahnerlehre besuchte sie die Ingenieurschule in Hennigsdorf und kam im Anschluss nach Ostberlin, um als IT-Spezialistin zu arbeiten. "Ich war politisch überhaupt nicht engagiert", beschreibt sie ihre damalige Haltung. Die Mauer hat in Regina Brandts Leben keine besondere Rolle gespielt: "Durch das kleine Kind, den Schichtdienst meines Mannes und meine Vollbeschäftigung war ich ziemlich ausgelastet. Die Grenze war da, man nahm das halt so hin." Im Verlauf des Jahres 1989 hat sie dann aber gespürt, dass sich etwas veränderte: "Die Unzufriedenheit wurde stärker." Allerdings registrierte Regina Brandt weniger das aufkeimende Gefühl von Freiheit als vielmehr die repressive Reaktion des Staates auf die fortschreitende Emanzipation seiner Bürger/innen. Etwa, als einem Kollegen gekündigt wurde, nur weil dieser mit einer Kanadierin befreundet war. Oder als die Besuche der Tante ihres Mannes aus Westberlin plötzlich erschwert wurden, angeblich, "weil sie bloß angeheiratet war".
Über das Westfernsehen bekam Regina Brandt im Sommer 1989 mit, wie die BRD-Botschaft in Prag besetzt wurde, wie DDR-Bürger/innen über die ungarisch-österreichische Grenze flüchteten. Und sie sah die ersten Leipziger Montagsdemonstrationen, über die sie mit Freunden und Kollegen diskutierte: "Wir waren schon sehr aufgewühlt und man sog die Nachrichten nur so in sich auf." Ihr persönliches Schlüsselerlebnis hatte Regina Brandt am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR. Da war sie eigentlich bloß zum Einkaufen an den Alexanderplatz gekommen, als sie mit ansah, wie Demonstranten/innen von der Polizei eingekesselt und verhaftet wurden. Sie fand es "beängstigend", wie der Staat mit seinen Bürgern/innen umging.
An den 9. November, "einen Donnerstag", kann sich Regina Brandt noch ganz genau erinnern: "Unsere Nachbarn von unten kamen hoch und sagten: «Die Mauer ist auf!» Wir haben dann sofort den Fernseher eingeschaltet." Sie selbst wäre am liebsten direkt ans Brandenburger Tor gefahren, ihr Mann jedoch zögerte. Er, der anders als sie SED-Mitglied war, war sich nicht sicher, was das alles zu bedeuten hatte. "Deshalb sind wir erst am nächsten Tag hin." Gemeinsam mit ihrem Mann und der damals fünfjährigen Tochter Aneka ging es an diesem "kalten, fast schon winterlichen Morgen" zum Grenzübergang an der Sandkrugbrücke. Nervös waren sie, unsicher, was jetzt gleich passieren würde. "Keiner wusste ja, was man tun musste, um rüber zu kommen." Letztendlich mussten sie bloß ein Formular ausfüllen, "und dann waren wir auch schon im Westen". Dort stiegen sie in den Bus und landeten – eher zufällig – in der Turmstraße im Bezirk Moabit, wo sie sich in einer Sparkassen-Filiale ihr Begrüßungsgeld abholten. Später ging es noch in den Westberliner Bezirk Steglitz und ins Kaufhaus des Westens am Wittenbergplatz. Als "herzlich", sagt Regina Brandt, habe sie die Atmosphäre an diesem Tag empfunden, "überall wurde Kaffee ausgeschenkt". Am Abend fuhren sie dann zurück nach Ostberlin. Danach erkundete Regina Brandt mit ihrer Familie und "mit einem Stadtplan bewaffnet" beinahe jedes Wochenende Westberlin.
Ein Jahr nach der Wiedervereinigung wurde der Betrieb, in dem Regina Brandt damals tätig war, vom Thyssen-Konzern übernommen. Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden mehr und mehr Mitarbeiter/innen entlassen, bis sie irgendwann nur noch zu zweit waren. 2000 wurde das Unternehmen dann geschlossen. Regina Brandt musste sich eine neue Anstellung suchen, fand jedoch keine Anstellung als Informatikerin und war deshalb bis 2008 in einem kleineren Unternehmen "als Mädchen für alles" tätig. Inzwischen ist sie berentet. Während sie und ihr Mann nach der Wiedervereinigung ihrem gewohnten Lebensumfeld in der Nähe des Friedrichshainer Ostbahnhofs treu geblieben sind, ist ihre Tochter inzwischen in den Westen der Stadt, nach Steglitz, gezogen.

"Die geschichtliche Relevanz habe ich zuerst nicht begriffen."
Patricia Pantel (42) aus Hannover

Als die damals achtzehnjährige Patricia Pantel aus Hannover am 9. November 1989 beschloss, den Lateinunterricht an ihrem Gymnasium zu schwänzen und stattdessen zu ihrem Freund nach Berlin zu fahren, ahnte sie nicht, was sich dort noch am selben Abend ereignen würde. Ihr Freund lebte in einer Kreuzberger Wohngemeinschaft und hatte einen Mitbewohner, "der ein passionierter Fernsehgucker war". Der sei dann irgendwann am Abend, da lagen sie schon im Bett, zu ihnen ins Zimmer gekommen und habe behauptet, dass die Mauer gefallen sei. Patricia Pantels erste Reaktion: "So ein Quatsch. Du glaubst echt jeden Mist, der dir im Fernsehen erzählt wird." Als ihnen jedoch klar wurde, dass das alles stimmte, fuhren sie direkt zum nächsten Grenzübergang am Moritzplatz. Dort, erzählt Patricia Pantel, habe sie die Menschen, die zu Fuß oder auf Fahrrädern die Grenze überquerten, staunend angeblickt. Am selben Wochenende ist sie dann mit ihrem Freund auch noch mehrfach am Brandenburger Tor gewesen, bevor es am Sonntagabend "brav zurück nach Hannover ging".
"Rückblickend stand damals für mich wohl mehr der Event-Charakter im Mittelpunkt. Die Dramatik, die geschichtliche Relevanz, das alles habe ich zuerst nicht wirklich begriffen." Zwar hatte Patricia Pantel die Montagsdemonstrationen und auch die Ereignisse, die sich in diesem Sommer in Prag oder Ungarn abgespielt hatten, medial mitverfolgt und auch zu Hause und in der Schule diskutiert, "aber in meiner Wahrnehmung hatte das alles nichts mit meinem Leben zu tun. Das passierte in einem anderen Land." Sie hatte keinerlei Verwandte in der DDR und "war zuvor auch nicht viel im Osten gewesen."
In den Monaten nach der Maueröffnung erkundete Patricia Pantel das Ostberliner Nachtleben – den inzwischen geschlossenen Knaack-Club in der Greifswalder Straße beispielsweise. Und wenn sie abends die Grenze von West nach Ost überquerte, schwang immer auch dieses irreale Gefühl mit: "Was, wenn das jetzt ein Trick ist? Wenn die die Mauer einfach wieder zu machen?" Nach dem Abitur im darauf folgenden Sommer zog es Patricia Pantel zum Germanistik- und Politik-Studium nach Berlin. Dort, an der Technischen Universität (TU), habe es dann auch "erste Kontakte" gegeben zu den damals noch wenigen Studenten aus Ostberlin, die an der TU studierten – etwa über gemeinsam erarbeitete Referate. Doch erst später, als sie schon Radiomoderatorin war und ihr Sender mit einem DDR-Jugendsender fusioniert wurde und "Ost und West aufeinander prallten", fand für sie im direkten Kontakt mit den Kollegen aus Ostberlin eine auch inhaltlich tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Ereignissen rund um den Mauerfall statt.

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Kategorie: Hintergrund

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