Dr. Stefan Sell ist Sozialwissenschaftler und Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am Campus Remagen der Hochschule Koblenz. 2016 wurde er für sein sozialpolitisches Engagement mit dem "Regine Hildebrandt Preis" ausgezeichnet. 2018 berief man ihn zum Mitglied der "European Academy of Sciences and Arts (EASA)". Stefan Sell betreibt den sozialpolitischen Blog Zum externen Inhalt: "Aktuelle Sozialpolitik. Informationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik" (öffnet im neuen Tab).

kinofenster.de: Herr Professor Sell, früher war der Beruf des Post- oder Paketboten ein begehrter Job mit geregelten Arbeitszeiten. Wie sieht die Situation heute aus?

Stefan Sell: Tatsächlich hat der Beruf des Post- oder Paketboten einen radikalen Wandel vollzogen, dessen Ursprung in die Mitte der 1990er-Jahre zurückreicht. Damals hat die Dienstleistungsbranche entdeckt, dass sich enorme Kosten sparen lassen, wenn man sich eines Großteils der Arbeitgeberpflichten entledigt. Das gelingt im Prinzip nur, wenn die Leute aus der tarifgebundenen Festanstellung gelöst werden und man neue Konstruktionen sucht.

kinofenster.de: Welche Rolle spielte dabei die Umwandlung der einst staatlichen Bundespost zur Deutschen Post AG im Jahr 1995?

Stefan Sell: Die Privatisierung der Deutschen Bundespost und die Freigabe des Marktes waren die Voraussetzung für diese Entwicklung. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Dienstleistungen wie die Paketzustellung oder die Altenpflege eine betriebswirtschaftliche Besonderheit auszeichnet: Anders als etwa in der Automobilindustrie gibt es hier kaum Rationalisierungsmöglichkeiten. Die Produktivität der Arbeitnehmer kann nicht in dem Maße steigen, wie das in der klassischen Produktion der Fall ist. Das wird dann zum Problem für die Unternehmen, wenn die Löhne in diesen Dienstleistungen so angehoben werden sollen wie in der Industrie. Denn in der Industrie kann man das immer über Produktivitätssteigerungen ausgleichen. Doch wie lässt sich die Produktivität einer Altenpflegerin jedes Jahr um fünf Prozent steigern? Das geht schlichtweg nicht.

kinofenster.de: Bei den Paketzustellern wird versucht, das Arbeitspensum mit Hilfe von Tracking zu erhöhen. So können die Auftraggeber elektronisch ermitteln, wann die Boten an welchem Punkt ihrer Tour sind und wie lange sie brauchen …

Stefan Sell: Da die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung auch bei den Paketzustellern begrenzt sind, führt das zu einer permanenten Überforderung der Betroffenen, die immer mehr Sendungen immer schneller zustellen sollen. Das stößt in der Realität auf systematische Grenzen. Selbst wenn Sie einen Paketzusteller haben, der bereit ist, die Beschleunigung und Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen hinzunehmen – allein aufgrund der Zunahme des Verkehrs, der fehlenden Parkmöglichkeiten, wird er an Grenzen stoßen. Das ist der Punkt, an dem weitere Möglichkeiten der Kostensenkung umgesetzt werden. Dann werden etwa die bisherigen "teureren" Paketzusteller ausgetauscht und durch billigere Arbeitskräfte beispielsweise aus Osteuropa ersetzt – die bereit sind, für Subunternehmen zu extrem niedrigen Löhnen zu fahren.

kinofenster.de: Wie könnte die Situation der Paketboten verbessert werden?

Stefan Sell: Dem Subunternehmerwesen kann allein regulatorisch Einhalt geboten werden. Das funktioniert aber nur durch eine Umkehrung der Entwicklung der vergangenen Jahre, in denen diese Dienstleistungen ausgelagert wurden. Das heißt, wir brauchen wieder ein Insourcing der Beschäftigung. Die Paketboten müssen bei den Paketdiensten wieder in feste sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kommen.

kinofenster.de: Wie sieht es denn in der ambulanten Pflegebranche aus?

Stefan Sell: In der Pflege führt das Finanzierungssystem ähnliche Ergebnisse herbei. Wir haben im Augenblick folgende Situation: Von oben ist ein Finanzierungssystem vorgegeben, das eine Minutenpflege festlegt. Das heißt, dass jede einzelne Leistung mit einem Punktwert versehen wird, wofür es dann einen bestimmten Geldbetrag gibt. Die Zeit ist festgelegt, zum Beispiel acht Minuten für die große Körperpflege. Wenn die Pflegekraft länger braucht, ist das ihr Problem. Der ambulante Pflegedienst trägt also allein das unternehmerische Risiko, was wiederum zu Hetze und Stress führt.

kinofenster.de: Gibt es Alternativen zu diesem Punktesystem?

Stefan Sell: Wir sind derzeit in diesem durchökonomisierten System gefangen, das sich Betriebswirte ausgedacht haben. Dass ein Systemwechsel möglich ist, zeigt das Beispiel Holland. Dort wurde die ambulante Altenpflege kommunalisiert. Die Pflegekräfte werden nun nicht mehr nach den einzelnen verrichteten Leistungen bezahlt, sondern nach Zeit. In der Praxis brauchen die Pfleger dann für die einen Menschen eben etwas mehr, für die anderen etwas weniger Zeit – am Ende spielt sich das wieder ein. Und tatsächlich hat sich diese Umstellung bewährt: Die Pflegekräfte sind deutlich zufriedener, die Ergebnisse sind besser. Solche Fortschritte setzen aber einen Systemwechsel voraus.

kinofenster.de: Das ambulante Pflegesystem belohnt also gegenwärtig denjenigen, der seine Punkte schnell abarbeitet und bestraft den, der sich für seine Patienten Zeit nimmt?

Stefan Sell: Das ist meiner Meinung nach der gesellschaftspolitisch entscheidende Punkt: die Schuldverlagerung auf die Betroffenen selber. Das ist perfide und hat sich in der Gesellschaft ausgebreitet.

kinofenster.de: Nach dieser Logik wären auch die Paketboten selbst an ihrer Situation schuld.

Stefan Sell: Genau das ist leider die Einstellung. Die strukturellen Probleme, die ganz klar aus den ökonomischen Mechanismen resultieren, richten sich jetzt gegen die einzelnen Paketboten: Nicht die Unternehmen, die die Strukturen eingeführt haben, werden beschimpft und im Internet vorgeführt. Der Hass kehrt sich gegen das schwächste Glied in der Kette. Das kommt dann zu der Ausbeutung noch hinzu.

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