Kategorie: Hintergrund
Triumph und Terror
Olympia 1972 und das neue Deutschland
Schwarzer September: ein Hintergrundtext über den dramatischen Ablauf des Olympia-Attentats und das Versagen von Politik und Polizei
Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels, der am 02.09.2022 in Zum externen Inhalt: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, München 1972 (öffnet im neuen Tab) erschienen ist.
Überfall im Morgengrauen
Im Morgengrauen des 5. September 1972 sahen sechs Postbeamte, die auf dem Weg zur Arbeit ins Olympiapostamt waren, mehrere Männer in Trainingsanzügen mit großen Sporttaschen über den Zaun ins Olympische Dorf klettern.[1] Sie dachten sich nichts dabei: Seit Beginn der Spiele war es üblich, dass Sportlerinnen und Sportler sich am frühen Morgen nach der Disco wieder ins Dorf schlichen, gerade rechtzeitig, bevor Trainer und Betreuer ihre Abwesenheit bemerkten. Wenn die Organisatoren unbedingt hätten verhindern wollen, dass jemand über den Zaun steigt, hieß es, hätten sie ihn sicher auch höher errichtet als zwei Meter und die Pfosten oben nicht abgerundet.
Die vermeintlichen Athleten waren in Wahrheit die acht Mitglieder eines Kommandos der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September". Ein Anschlag nahm seinen blutigen Lauf, dessen globale Wirkmächtigkeit aus heutiger Sicht nur vergleichbar ist mit den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA. In München trat der internationale Terrorismus ins Bewusstsein der Menschen, weil sich das Unheil in einer kollektiven Live-Fernseherfahrung Stunde um Stunde vor den Augen der Welt entfaltete.
Der palästinensische Überfall auf die israelische Mannschaft konterkarierte grausam den Plan der Münchner Olympia-Organisatoren, die Nazi-Zeit vergessen zu machen. Wieder starben Juden auf deutschem Boden. Später stellte sich heraus, dass die olympischen Gastgeber mehr als zwei Dutzend Hinweise auf einen drohenden Anschlag ignoriert hatten und dass die Sicherheitskräfte unvorbereitet und nicht ausreichend ausgerüstet waren. Das komplette Versagen von Polizei, Behörden und Politik sollte das deutsch-israelische Verhältnis auf Jahre hinaus belasten.
Die acht Terroristen liefen um kurz nach vier Uhr morgens die wenigen Meter vom Zaun des Dorfs in die Connollystraße, die nach dem US-amerikanischen Dreispringer James Connolly benannt war, dem ersten Olympiasieger der Neuzeit. In Haus Nummer 31 waren auf mehrere Appartements verteilt 21 Mitglieder des israelischen Olympia-Teams einquartiert. Das Terrorkommando rannte zunächst ein Stockwerk zu weit nach oben und platzte in eine falsche Wohnung, in der Athleten aus Hongkong lebten. Dann stürmte es zwei Wohnungen mit Israelis. Die Sportler leisteten heftigen Widerstand.
Im Handgemenge erschossen die Palästinenser den Ringertrainer Moshe Weinberg und verletzten den Gewichtheber Yossef Romano schwer. Sie trieben neun Israelis im Zimmer des Fechttrainers Andrei Spitzer zusammen. Die Athleten wurden gefesselt und mussten die folgenden Stunden auf zwei gegenüberliegenden Betten sitzen, stets bedroht von Terroristen mit Maschinengewehren. Den sterbenden Romano legten die Palästinenser zwischen die Geiseln auf den Boden; sein Todeskampf dauerte mehrere Stunden. Alle Bitten, doch einen Arzt zu rufen, ignorierten die Geiselnehmer.
Rechtsextreme Helfer
Sie warfen zwei Polizisten, die vor dem Haus auftauchten, mehrere Blätter zu. Darauf standen die Namen von 328 Gesinnungsgenossen, deren Freilassung sie bis 9 Uhr forderten. Die Allermeisten waren in Israel inhaftierte Palästinenser. Außerdem auf der Liste: die deutsche Linksterroristin Ulrike Meinhof. Wie man heute weiß, führte diese Forderung insofern in die Irre, als es tatsächlich deutsche Rechtsextremisten waren, die das Attentat vorzubereiten halfen.
Willi Pohl, Mitglied der rechtsradikalen "Volksbefreiungsfront Deutschland", kutschierte im Sommer 1972 wochenlang Abu Daoud durchs Land – den Drahtzieher des Attentats. Pohls Rolle kam erst 40 Jahre später durch Recherchen des "Spiegel" ans Tageslicht.[2] Bis heute sind längst nicht alle Hintergründe des Anschlages bekannt. Noch immer liegen in Archiven gesperrte Akten. Kein Untersuchungsausschuss, nicht einmal eine Historikerkommission hat den Anschlag gründlich aufgearbeitet. Selbst ein würdiger Gedenkort im Münchner Olympiapark wurde erst nach 40 Jahren beschlossen – vermutlich, weil die Verantwortlichen von damals ihre Fehler nicht auch noch zur Schau stellen wollten. Das deutsche Versagen endete nicht mit dem Tod der zwölf Opfer, es setzte sich noch lange fort.
Gescheiterte Befreiung
Am 5. September 1972 traf sich der Krisenstab wenige hundert Meter entfernt vom Ort der Geiselnahme. Bayerns Innenminister Bruno Merk übernahm die Leitung, der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber war sein wichtigster Ansprechpartner. Auch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher redete mit. Den ganzen Tag herrschte ein großes Kommen und Gehen, was ein koordiniertes Krisenmanagement nicht gerade begünstigte. Immerhin gelang es den Verantwortlichen, den Terroristen immer wieder neue Ultimaten abzuringen, ohne dass weitere Geiseln erschossen wurden.
Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir hatte den Deutschen bereits am Morgen mitgeteilt, dass ihr Land keinen einzigen Palästinenser aus einem israelischen Gefängnis freilassen würde. Andernfalls, so Meir, wäre kein Jude auf der Welt mehr vor solcher Erpressung sicher. Der Krisenstab entwarf daraufhin Szenarien für eine Geiselbefreiung, stieß aber schnell an praktische Grenzen. Die Deutschen hatten weder ausgebildete Scharfschützen noch Präzisionswaffen. Die Sache nahm groteske Züge an: Als Polizisten in Trainingsanzügen auf den Dächern in Stellung gingen, konnten die Terroristen das live im Fernsehen mitansehen. Niemand hatte den Kamerateams das Filmen verboten.
Am späten Nachmittag änderten die Geiselnehmer überraschend ihre Forderungen. Ihr Anführer Issa, der den Tag über mit den deutschen Verantwortlichen vor der Eingangstür verhandelte, das Gesicht geschwärzt und ein Pepita-Hütchen auf dem Kopf, verlangte nun, mit seinen Leuten und den Geiseln nach Ägypten ausgeflogen zu werden. Kurz zuvor hatte das IOC die sportlichen Wettkämpfe unterbrochen. Immer heftiger waren die internationalen Proteste geworden, man könne doch nicht einfach weitermachen als wäre da nichts. Unterdessen bat die Bundesregierung die ägyptische Führung um Unterstützung. Doch diese wollte die Terroristen nicht aufnehmen. "We do not get involved", wurde Bundeskanzler Willy Brandt beschieden. Damit war klar: Die Geiselnahme musste auf deutschem Boden beendet werden.
Mit zwei Hubschraubern flogen Palästinenser und Geiseln um 22.35 Uhr aus dem olympischen Dorf zum Bundeswehr-Fliegerhorst nach Fürstenfeldbruck. Dort war eine Stunde zuvor eine Lufthansa-Maschine gelandet, in der als Crew verkleidete Polizisten warteten. Sie sollten, so der Plan, die Geiselnehmer beim Betreten der Maschine überwältigen. Doch den Beamten wurde schnell bewusst, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando handelte. [3] Keiner von ihnen war für solch einen riskanten Nahkampf ausgebildet. Die Polizisten verweigerten den Befehl und stiegen aus. Ihre Vorgesetzten zeigten dafür sogar Verständnis.
Kaum waren die Hubschrauber in Fürstenfeldbruck gelandet, eskalierte die Lage. Issa und sein Stellvertreter Toni liefen zur Maschine – und fanden sie leer vor. Ihnen wurde wohl klar, dass es sich um eine Falle handelte. Auf ihrem Rückweg zu den Hubschraubern begann ein Feuergefecht mit der Polizei, das – mit Pausen – mehrere Stunden andauerte. Bei den Sicherheitskräften lief schief, was schieflaufen konnte. Die Panzerfahrzeuge blieben im Stau der Gaffer vor dem Fliegerhorst stecken. Die Scharfschützen waren schlecht postiert, auch, weil man bis zuletzt trotzig von weniger als acht Attentätern ausgegangen war.
Die Terroristen ermordeten die neun Geiseln, die in den Hubschraubern aneinandergefesselt waren, mit Salven aus ihren Schnellfeuerwaffen und zündeten auch eine Handgranate. Neben den Israelis starb im Tower der Polizist Anton Fliegerbauer. Zu allem Überfluss verbreitete sich in der Nacht die fatale Falschmeldung, dass alle Geiseln befreit worden seien – erst am Morgen des 6. September erfuhr die Welt die fürchterliche Wahrheit.
Nachhall des Anschlags
Auch fünf Terroristen wurden in Fürstenfeldbruck getötet; drei weitere wurden leicht verletzt festgenommen. Der weitere Umgang mit ihnen ließ die deutsch-israelischen Beziehungen unter den Gefrierpunkt abkühlen. Nur 54 Tage nach ihrer Festnahme wurden die drei überlebenden Palästinenser aus deutscher Haft freigepresst, als Gesinnungsgenossen eine Lufthansa-Maschine entführten.
Die drei Männer wurden nach Tripolis ausgeflogen, wo ihnen Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi einen triumphalen Empfang bereitete. Das schnelle Nachgeben der deutschen Seite spricht im Rückblick dafür, dass dahinter ein heimlicher Deal der Bundesregierung mit der palästinensischen Führung stecken könnte. Auch kundige Zeitzeugen wie Hans-Jochen Vogel hielten dies für plausibel. Die Deutschen, so die These, hätten sich mit der Freilassung die Zusage der Palästinenser erkauft, die Bundesrepublik vor weiteren Anschlägen zu verschonen.
Die einzige sichtbare Konsequenz aus dem Olympia-Attentat war noch im September 1972 die Gründung der Antiterroreinheit GSG 9 (Grenzschutzgruppe 9). Sie ging auf die Initiative des Polizeioffiziers Ulrich Wegener zurück, der während des Anschlags der Adjutant von Bundesinnenminister Genscher gewesen war. Unter Wegeners Kommando befreite die GSG 9 dann im Oktober 1977 die Geiseln aus der von Palästinensern entführten Lufthansa-Maschine "Landshut". [4]
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[1] Die Darstellung der Ereignisse stützt sich auf die Archiv- und Zeitzeugen-Recherche der Autoren. Vgl. das Standardwerk zum Anschlag von Simon Reeve, Ein Tag im September. Die Geschichte des Geiseldramas bei den Olympischen Spielen in München 1972, München 2006.
[2] Vgl. Axel Frohn et al., Die angekündigte Katastrophe, in: Der Spiegel, 23.7.2012, S. 34–44.
[3] Vgl. Patrizia Schlosser, Himmelfahrtskommando, Podcast des Bayerischen Rundfunks, 2.5.2022, Externer Link: http://www.ardaudiothek.de/sendung/10475841.
[4] Vgl. Ulrich Wegener, GSG 9. Stärker als der Terror, Münster 2018.