Kategorie: Hintergrund
Der Selma-Montgomery-Marsch von 1965: Ein Wendepunkt in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung
Der Name Selma hat eine zentrale Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung. Hier erstritten sich Afroamerikaner ihr Wahlrecht.
"Von einem Busboykott in Montgomery über den Kampf gegen die Rassentrennung in Birmingham zum Kampf um das Wahlrecht in Selma – wenn ein Kampf endet, gehen wir zum nächsten über!" Mit diesen Worten benennt Martin Luther King auf dem Höhepunkt von Selma nicht nur drei zentrale Schauplätze der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Abfolge Montgomery, Birmingham und Selma steht zugleich für die Entwicklung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und die Ausweitung ihrer Ziele. Über diese Stationen entwickelte sie sich zu einer Massenbewegung, der es gelang, die systematische Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung zu beenden. Denn auch 100 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges gehörte rassistische Gewalt im amerikanischen Süden zur Alltagserfahrung vieler Schwarzer.
Getrennt, aber gleich
Noch in den 1960er-Jahren mussten Afroamerikaner/innen im hinteren Bereich von Bussen Platz nehmen, vom Besuch weißer Schulen waren sie gänzlich ausgeschlossen. Der Oberste Gerichtshof hatte diese Politik in Bundesstaaten wie Alabama, Mississippi, Louisiana oder Texas 1896 durch die Formulierung des Grundsatzes "separate, but equal" ("getrennt, aber gleich") ausdrücklich für rechtens erklärt. Tatsächlich waren die Einrichtungen für Schwarze alles andere als gleichwertig. Offiziell hatte der Oberste Gerichtshof bereits 1954 aufgrund einer afroamerikanischen Bürgerrechtsklage die Rassentrennung im Schulwesen aufgehoben. Doch die Umsetzung des Urteils ließ auf sich warten, was zeigte, dass das System der weißen Vorherrschaft nicht so leicht zu überwinden war.
Radikalisierung des Protests
Die Bürgerrechtsbewegung reagierte auf die Verzögerungstaktik, die durch die Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen der Regierung in Washington und den einzelnen Bundesstaaten legitimiert war, mit einer Radikalisierung ihrer Protestformen und forderte die Regierung durch Demonstrationen und direkte Aktionen unmittelbar heraus. Der damals 27-jährige Pastor Martin Luther King wurde 1955 zu ihrem Gesicht, als sich in Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, die Näherin Rosa Parks weigerte, ihren Platz in der "weißen" Sektion eines Busses zu räumen, und verhaftet wurde. King organisierte hierauf einen Busboykott, der erst endete, als ein Gerichtsurteil die Stadt zur Desegregation des Bussystems zwang. An Dynamik gewann die Bewegung 1960, als vier schwarze Studenten in einem Restaurant in Greensboro, North Carolina, verlangten, an einer für Weiße vorbehaltenen Theke bedient zu werden, und sich weigerten, das Lokal zu verlassen. Bald darauf wurde das "Greensboro-Sit-in" im ganzen Land zum Vorbild des zivilen Ungehorsams.
Kampf um das Wahlrecht
Ava DuVernays "Selma" erzählt diese Phase der Bürgerrechtsbewegung ausgehend von ihrem Kulminationspunkt im Jahr 1965. In Dialogen und Rückblenden erfahren die Zuschauenden, dass im Jahr zuvor eine Viertelmillion Menschen Kings Aufruf zu einem Marsch auf Washington gefolgt waren und der Kongress bereits 1964 ein einschneidendes Bürgerrechtsgesetz verabschiedet hatte. Dieses hob zwar die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen auf, konnte aber nicht verhindern, dass in den Südstaaten die afroamerikanische Bevölkerung weiterhin an der Ausübung ihres Wahlrechts gehindert wurde. In "Selma" ist zu sehen, wie die Bürgerrechtsaktivistin Annie Lee Cooper von einem lokalen Beamten in entwürdigender Weise daran gehindert wird, sich als Wählerin zu registrieren. Martin Luther King drängte daher Präsident Lyndon B. Johnson, ein Wahlrechtsreformgesetz auf den Weg zu bringen. Dass Johnson, wie im Film dargestellt, aus politischen Gründen keine weiteren Proteste wünschte und King zur Zurückhaltung mahnte, ist historisch umstritten. Sicher ist, dass die Bürgerrechtsgesetze ohne den Druck der von King repräsentierten Bewegung niemals verabschiedet worden wären.
Öffentlichkeit durch Eskalationsstrategie
In einer des Films erläutert King zwei skeptischen Aktivisten von der lokalen Wahlrechts-Bewegung, dass nur eine gezielte Eskalation der Spannungen im Süden Washington zu einer Reform des Wahlrechts bewegen würde. Bereits 1963 hatte es King mithilfe einer Kampagne geschafft, den hitzköpfigen Polizeichef von Birmingham, "Bull" Connor, zu blutigen Polizeieinsätzen gegen disziplinierte und friedliche Demonstranten zu provozieren. Die Empörung über diese Gewaltexzesse hatte maßgeblich zur Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes beigetragen. King setzte darauf, dass dieses Szenario in Selma wiederholt werden konnte, weil der dortige Sheriff Jim Clark ebenfalls zu unüberlegten Gewaltmaßnahmen neigte. Kings Kalkül ging auf, doch der Preis für den "Voting Rights Act" von 1965 waren tote und schwer verletzte Bürgerrechtler. Am Rande beleuchtet "Selma" auch den Rassismus der Medien. Die Ermordung schwarzer Aktivisten war ihnen kaum eine Nachricht wert. Erst als in Selma auch weiße Opfer zu beklagen waren, drang die Kampagne für die Wahlrechtsreform ins öffentliche Bewusstsein.
Von Selma bis Ferguson
Der Schlusssong "Glory" von Johnny Legend und Common mit den Zeilen "Now the war is not over / Victory isn’t won" erinnert daran, dass trotz der Erfolge der Bürgerrechtsbewegung Kings Traum einer postrassistischen Gesellschaft noch immer in weiter Ferne liegt. Zwar wird im Amerika Barack Obamas das staatsbürgerliche Gleichheitsprinzip nicht mehr ernsthaft infrage gestellt. Wirkliche Chancengleichheit und ein Ende von Alltagsrassismus und Armut bleiben jedoch unerreicht. Im afroamerikanischen Bewusstsein stehen die Orte Montgomery, Greensboro, Birmingham und Selma daher nicht für eine überwundene Leidensgeschichte, sondern für den Anspruch auf Gleichberechtigung und die Macht kollektiver Kämpfe. Dass diese nicht zwangsläufig eine Führungspersönlichkeit benötigen, zeigte sich jüngst bei den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt in Ferguson, auf die auch Johnny Legend und Common in "Glory" explizit Bezug nehmen. Die Bürgerrechtsbewegung hat sich eindrucksvoll zurückgemeldet. "Ferguson", kommentierte der einflussreiche afroamerikanische Intellektuelle Cornel West, "ist das Birmingham unserer Tage."