Die Schlüsselszene von Zum Filmarchiv: "Selma" hat eine Vorgeschichte. Der erste Protestmarsch der Bürgerrechtsbewegung von Selma nach Montgomery, der als "Blutiger Sonntag" in die US-amerikanische Geschichte einging, war von Polizisten mit Tränengas, Schlagstöcken und Peitschen niedergeschlagen worden. Der Film konturiert den historischen Zwischenfall auf unterschiedlichen Ebenen: In einer rasch geschnittenen Zum Inhalt: Montage erfasst der Film nicht nur das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegenüber den wehrlosen Demonstrierenden, er zeigt auch die Live-Übertragung im Fernsehen und die entsetzten Reaktionen in den amerikanischen Wohnzimmern. Dazu erklingt der wehmütige Gospelgesang von Martha Bass. Kommentiert werden die Ereignisse durch das Zum Inhalt: Voice-over eines weißen Journalisten, der seinen Artikel von einem öffentlichen Telefon aus an seine Redaktion übermittelt. Fernsehbilder, Rundfunkberichte und Zeitungsmeldungen, so die Eskalationsstrategie Martin Luther Kings, verbreiteten die brutalen Vorgänge an ein Millionenpublikum.

Selma, Szene (© Studiocanal)

Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls

Der zweite Protestmarsch fungiert als dramatischer Höhepunkt von "Selma" . Als Reaktion auf die brutalen Polizeiübergriffe appelliert King an die ganze Nation, nach Selma zu kommen, um sich dem friedlichen Protest anzuschließen. Gemeinsam sollten Weiße und Afroamerikaner über die Brücke nach Montgomery marschieren. Die Menschen, unter ihnen Geistliche aller Glaubensgemeinschaften, folgen seinem Aufruf und strömen aus dem gesamten Land in die kleine Südstaaten-Stadt. Vor dem behördlich verbotenen Marsch hält King eine kurze Ansprache. In der Rolle des charismatischen Rhetorikers forciert David Oyelowo (in der englischen Originalfassung) den melodischen Rhythmus von Kings Sprache, betont die ersten Silben, zerdehnt die Wörter und macht zwischen den Sätzen dramatische Pausen: "The president don’t want us to march today. The courts don’t want us to march. But we must march. We must stand up. We must make a mass of demonstration of our moral certainty. I am so glad, that we are together today. I thank you for standing up. We shall be victorious in our request. We shall cross the finish line hand in hand. We shall overcome." ("Der Präsident möchte nicht, dass wir heute gemeinsam marschieren. Die Gerichte möchten uns nicht marschieren sehen. Aber wir müssen marschieren. Wir müssen uns erheben. Wir müssen unsere moralische Gewissheit in eine Demonstration verwandeln. Ich bin sehr froh, dass wir hier heute versammelt sind. Ich danke euch allen dafür, dass ihr aufgestanden seid. Wir werden mit unserem Anliegen siegreich sein. Wir werden die Ziellinie Hand in Hand überschreiten. Wir werden alle Widerstände überwinden.") Dieses Gemeinschaftsgefühl kommt auch in den filmischen Gesten zum Ausdruck: Über Kings Schulter blickt die Zum Inhalt: erhöhte Kamera und zeigt die applaudierende Menschenmenge. Im Bildvordergrund sind die erhobenen, einander haltenden Hände der Demonstrierenden zu sehen.

Der Kniefall auf der Brücke

Eingehakt marschieren die Menschen erneut über die Edmund Pettus Bridge auf die geschlossenen Linien der Polizei zu, die die Marschierenden auf der anderen Seite erwartet. Die Kamera ist ruhiger als beim ersten Marsch. Statt mit schnellen Schnitten und Gegenschnitten zwischen Demonstrierenden, Schaulustigen und Polizisten zu arbeiten, benutzt die Regisseurin diesmal erhöhte Zum Inhalt: Totalen und Close-ups auf die Gesichter der Menschen, die noch unter dem Eindruck der Polizeigewalt stehen. Akustische Unterstützung erhalten die Filmbilder durch den Protestsong „Masters of War“ auf der Zum Inhalt: Tonspur. Doch als sich der Marsch langsam den bewaffneten Polizisten nähert, geben diese plötzlich den Weg frei. Die Teilnehmenden applaudieren, doch King hält für einen Moment inne, um dann auf der Straße niederzuknien. Der Demonstrationszug schließt sich dieser demütigen Geste an. Die Menschen senken ehrfürchtig ihre Köpfe und beten, die Zum Inhalt: Kamera folgt ihnen auf Augenhöhe. Neben seinem Sinn für symbolische Gesten unterstreicht das gemeinsame Gebet an derselben Stelle, an der zwei Tage zuvor der friedliche Demonstrationszug niedergeschlagen worden war, die Religiosität Kings, der das Prinzip der Gewaltlosigkeit im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung propagierte. Doch statt den Weg fortzusetzen, kehrt King zur allgemeinen Überraschung nach seinem Gebet um und bricht damit den Marsch ab. Auch der zweite Selma-Montgomery-Marsch findet ein vorzeitiges, diesmal unblutiges Ende.

Kritik am gemäßigten Kurs

Die anschließende Zum Inhalt: Szene im spärlich beleuchteten Innenraum der Gemeindekirche von Selma entwirft ein detailreiches Bild jener Zeit. Sie beschreibt einerseits Martin Luther Kings Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft, das ihn – das Ziel vor Augen – zur Umkehr bewegte, aber auch die individuellen Dynamiken innerhalb der Bewegung. Während der erhitzten Diskussion mehrt sich die Kritik an Kings gemäßigtem Kurs. Seine treuen Wegbegleiter wären erbost und fühlten sich um eine historische Chance gebracht, nachdem King mit seinem Appell Tausende Menschen aus dem ganzen Land mobilisiert habe, werfen ihm einige seiner engsten Vertrauten vor. Er hätte das Momentum nutzen sollen, gerade weil viele Weiße am Protest teilgenommen haben. Doch King nimmt die Verantwortung für seine Entscheidung auf sich: "Ich möchte lieber, dass die Menschen enttäuscht und verärgert über mich sind, als dass sie bluten oder sterben."

Zwischen Glaube und Pragmatismus

King erklärt seinen Gefolgsleuten, dass er einen Hinterhalt und damit die Gefahr einer erneuten blutigen Auseinandersetzung gefürchtet habe. Auch pragmatisch-praktische Überlegungen haben ihn zur Umkehr bewogen: Ohne umfangreiche Vorbereitungen und genügend Nahrungsmittel hätten es die Teilnehmenden nicht nach Montgomery geschafft. Eine etwas andere Einschätzung teilen in der folgenden Szene zwei weiße Prediger, die ebenfalls am Protestmarsch teilgenommen haben. Sie schreiben Kings Kniefall und seinen Entschluss, den Demonstrationszug nach Selma zurückzuführen, einer höheren Eingebung zu. In dieser Szenensequenz verdichtet sich ein Bild von der Persönlichkeit Kings, der als Anführer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung permanent seinen politischen Pragmatismus mit seinem Glauben in Einklang bringen musste.

Selma, Szene (© Studiocanal)

In der Gewalt-Frage grenzte King sich deutlich von seinem Widersacher Malcolm X ab, der Realpolitik unter Einsatz von Gewalt durchzusetzen versuchte. Mit den Selma-Montgomery-Märschen, die King direct action nannte, wollte er stattdessen eine Reaktion seiner Gegner provozieren, welche die öffentliche Meinung beeinflussen sollte. King hatte früh erkannt, welche Rolle die Medien bei der Durchsetzung politischer Forderungen spielten und er nutzte dieses Wissen strategisch geschickt aus. Die landesweite Ausstrahlung der gewaltsamen Niederschlagung löste auch in der weißen Bevölkerung ein Umdenken aus. So gab die Geschichte Martin Luther King recht. Wenige Tage später erlaubte der Oberste Gerichtshof in Bezugnahme auf das verfassungsgemäße Recht auf freie Meinungsäußerung den Marsch von Selma nach Montgomery. Dieses Mal säumte die Nationalgarde den Weg der Demonstrierenden und verschaffte dem Zug sicheres Geleit.