Kategorie: Interview
„Heutzutage sind die Menschen die treibende Kraft, es gibt keine Führungspersönlichkeiten mehr“
Selma ist die erste große Produktion der Independent-Filmemacherin Ava DuVernay. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit am Drehbuch, die Beziehung von Martin Luther King und seiner Ehefrau Coretta und aktuelle Bezüge zu den Protesten in Ferguson.
Im Interview spricht die Filmemacherin Ava DuVernay über ihre Arbeit am Drehbuch, die Beziehung zwischen Martin Luther King und seiner Ehefrau Coretta und aktuelle Bezüge zu den Protesten in Ferguson.
Ava DuVernay hat viele Jahre als Publizistin, Produzentin, Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin gearbeitet, bevor sie 2011 mit "I Will Follow" als Spielfilm-Regisseurin debütierte. Für ihren zweiten Spielfilm "Middle of Nowhere" wurde sie 2012 auf dem Sundance Film Festival als erste afroamerikanische Regisseurin mit dem Regie-Preis ausgezeichnet. DuVernays Spielfilme sind in afroamerikanischen Milieus angesiedelt, ihre Fernsehdokumentationen beschäftigen sich verstärkt mit afroamerikanischer Kultur. Zum externen Inhalt: Selma (öffnet im neuen Tab) ist in diesem Jahr für den Oscar als bester Film nominiert.
Mrs DuVernay, das "Selma" -Filmprojekt ist schon ein paar Jahre in Planung, ursprünglich war Lee Daniels als Regisseur vorgesehen. Der sagte schließlich ab, um "The Butler" zu drehen. Wie wurden die Produzenten auf Sie aufmerksam?
Ich denke, meine Vorgeschichte als Independent-Filmemacherin hat mir geholfen, denn alle anderen Kandidaten zeigten sich über das niedrige Budget nicht allzu begeistert. Wir mussten für 20 Millionen Dollar einen historischen Film mit Märschen, Reden, Protesten und nicht zuletzt Hunderten von Darstellern drehen. Den Produzenten war es jedoch wichtig, dass ein Afroamerikaner die Regie übernimmt, und sie wollten so lange warten, bis sich der oder die Richtige anbot. David (Anm. der Redaktion: Oyelowo) schrieb ihnen dann einen leidenschaftlichen Brief über mich. Wir hatten bereits zusammen an "Middle of Nowhere" gearbeitet.
Wie viel mussten Sie von dem ursprünglichen Drehbuch für Ihre Version überarbeiten?
Ich würde sagen, knapp 90 Prozent. Der erste Entwurf hatte jede Menge smarter Dialoge im Weißen Haus, die ich im Skript gelassen habe. Aber in weisse Rassisten konnte ich mich nicht so gut hineinversetzen. Besonders lag mir am Herzen, für die Geschichte von Martin Luther King und Coretta den richtigen Ton zu finden: ihre Beziehung, ihre Ehe und die Aufregung um sie herum. Ich habe sehr viel umgeschrieben. Die strategischen Besprechungen mit den Führern der einzelnen Bürgerrechtsorganisationen. Die armen kleinen Mädchen in der Eröffnungsszene. Die Wende im dritten Akt. Als Afroamerikanerin weiß ich viel über diese Zeit. Mein Vater ist aus Alabama, also bin ich mit den Orten vertraut. Ich habe auch die fiktionalen Charaktere gestrichen, in denen die Lebensgeschichten verschiedener historischer Figuren verschmolzen waren. Diese Zeit war so wundervoll und die Geschichte so intensiv, es war völlig unnötig, etwas hinzuzudichten.
Sie thematisieren die eheliche Untreue von King in einer einzigen, sehr berührenden Szene. Der kurze Dialog zwischen King und Coretta erzählt viel über ihre Beziehung. Wie haben Sie diese Szene entwickelt?
Jeder weiß von Kings ehelicher Untreue. Und es ist bekannt, dass eine solche Tonbandaufnahme zur Zeit der Selma-Proteste auftauchte. Ein männlicher Schreiber hätte seinen Fokus möglicherweise auf die andere Frau beziehungsweise die anderen Frauen gelegt. Als schwarze Autorin interessiert mich diese Episode aber vor allem im Zusammenhang einer afroamerikanischen Ehe. Wie gehen zwei Menschen damit um, welche Auswirkungen haben die Affären auf ihre Beziehung? Ich habe mir vorgestellt, wie ich in einer solchen Situation reagiert hätte. Durch meine Recherchen und Interviews habe ich viel über die Beziehung der beiden erfahren. Also ging es nur noch darum, ihre Charaktere zu erforschen und herauszufinden, wie sie miteinander reden würden. Coretta war eine ruhige, disziplinierte Person, die Szene durfte also nicht zu wortreich ausfallen. Als ich mich erst in ihre Situation hineinversetzt hatte, kamen die Worte fast wie von selbst.
Ein anderes Problem waren die Originalreden, die Martin Luther King zu Lebzeiten schützen ließ.
Ja, wir wollten unseren Film unabhängig produzieren und niemandem Rechenschaft ablegen – auch nicht den Erben Martin Luther Kings. Die Produzenten vertrauten mir darin, mich des Themas ohne Zustimmung seitens der King-Familie anzunehmen. Um unseren Film so zu erzählen, wie wir es wollten, mussten wir uns von diesem Einfluss frei machen. Das heißt, ich musste die Reden umschreiben. Keine der Reden, die im Film zu hören sind, gibt den exakten Wortlaut Kings wider. Ich habe mir seine Reden Zeile für Zeile vorgenommen, Wort für Wort, und seine Sprache studiert. Ich musste ihre Essenz herausarbeiten und überlegen, wie man dasselbe in anderen Worten formuliert. Wir mussten uns erst von den Worten lösen, um sie uns wieder anzueignen.
Der zweite Selma-Montgomery-Marsch ist die Schlüsselszene des Films. Warum, glauben Sie, ist King damals umgekehrt?
King fürchtete einen Hinterhalt. Zum Beispiel standen an einem Großteil der fünftägigen Wegstrecke nach Montgomery keine Fernsehteams. Die Demonstrierenden wären also leichte Beute für mögliche Angriffe gewesen. Es gibt viele Theorien darüber, was geschehen wäre, hätte King den Marsch fortgesetzt. Was mich aber viel mehr interessiert, ist die Frage: Wie würden die Menschen heute reagieren? Würden sie ebenfalls umkehren, wenn ihr Anführer mitten auf der Brücke umdreht? Wer besäße die Autorität, so eine Menschenmenge zur Umkehr zu bewegen? Heutzutage sind die Menschen die treibende Kraft, es gibt keine Führungspersönlichkeiten mehr. Und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
Sie haben in Interviews Vergleiche zwischen Selma und Ferguson gezogen. Martin Luther King hat bei den Protesten auf Eskalation gesetzt. Würde diese Taktik heute noch funktionieren, wo doch jeder über ein Smartphone mit Kamera verfügt und die Kritik an Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern nicht verstummt?
Kings Taktik wäre heute wirkungslos. Nehmen wir nur den Fall Eric Garner, der im Juli des vergangenen Jahres bei seiner Festnahme von einem Polizisten erwürgt wurde. Der Vorfall wurde mit Kameras festgehalten, die ganze Welt konnte es sehen und dennoch kam es nicht zu einer Anklage. Das ist der beste Beweis, dass Dr. Kings Taktik, rassistische Gewalt öffentlich zu machen, nicht mehr funktioniert. Vielleicht sind wir einfach nicht mehr empfänglich für die Gewalt um uns herum. Wir wollten im Film allerdings auch zeigen, wie anpassungsfähig und kreativ Kings Methoden des Widerstands waren.
Das Interview erschien zuerst in englischer Sprache auf www.deadline.com. Übersetzung: Andreas Busche