Kategorie: Hintergrund
Zwischen Fachwerkhaus und Shinto-Tempel: Die gezeichneten Welten von Hayao Miyazaki
Hayao Miyazaki erzählt tiefsinnige Geschichten über eine harmonische Koexistenz von Mensch, Natur und Technik. Seine gezeichneten Welten verbinden Fantasie und Alltag, Tradition und Moderne.
Schon seit Beginn der 1980er-Jahre erfreuen sich die Zeichentrickfilme von Hayao Miyazaki in Japan einer großen Beliebtheit, haben zum Teil Besucherrekorde in den Kinos gebrochen und werden auch von der Kritik hoch gelobt. Das im Jahr 1985 gegründete Studio Ghibli, in dem vor allem die neuen Filme von Isao Takahata und Hayao Miyazaki produziert werden,
hat damit aus heutiger Sicht seinen Anspruch eingelöst: Maßstäbe zu setzen in der japanischen Animationsindustrie durch qualitativ hochwertige Produktionen für die Kinoauswertung. In Deutschland blieben Miyazaki und das Studio Ghibli lange Zeit unbekannt. Erst der Kinostart von "Prinzessin Mononoke" (Mononoke Hime, Japan 1997) im April 2001 sowie der internationale Preisregen für (Sen to Chihiro no Kamikakushi, Japan 2002), vom Goldenen Bär der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2002 bis zum Academy Award im Jahr 2003, lenkten die Aufmerksamkeit auf das Werk von Hayao Miyazaki – auf Einblicke in Welten zwischen Fantasie und vertrautem Alltag, zwischen Tradition und Moderne sowie tiefsinnige Geschichten über eine harmonische Koexistenz von Mensch, Natur und Technik.
Leben in Harmonie
In "Nausicaä aus dem Tal der Winde" (Kaze no Tani no Naushika, Japan 1984) greift Miyazaki bereits das Thema auf, das sein Werk bis heute bestimmt und ein Grund dafür ist, dass vielen seiner Filme das Label "Öko-Märchen" verpasst wurde. Die Science-Fiction-Geschichte erzählt von Prinzessin Nausicaä, die in einer postapokalyptischen Welt sowohl zwischen zwei Staaten als auch den Menschen und riesigen insektenähnlichen Wesen vermitteln muss. Gemeinsam mit Prinz Asbel aus einem der verfeindeten Völker entdeckt sie die symbiotischen Zusammenhänge zwischen einem vergifteten Wald, den Insekten und den Menschen.
Ambivalenz von Gut und Böse
Es ist typisch für die Filme von Miyazaki, dass die Welt darin weder in Gut und Böse unterteilt werden kann noch dass die Beziehungen sofort durchschaubar sind. Die vergiftete, teilweise zur Bedrohung gewordene Natur, erweist sich oft als hausgemachtes Problem der Menschen, entstanden durch deren sorglosen Umgang mit den natürlichen Ressourcen.
Die Helden/innen in Miyazakis Filmen sind es, die dieses Problem erkennen und zeigen, wie dennoch ein Leben in Einklang mit der Natur möglich ist. Berührend erzählt Miyazaki immer wieder von dem Wert und der lebenswichtigen Notwendigkeit dieser Harmonie. Auch in Zum Filmarchiv: "Ponyo" (Gake no Ue no Ponyo, Japan 2008) beschwert sich ein Unterwasserzauberer über die Menschen, die mit ihrem Müll das Meer verschmutzt haben und die er am liebsten dafür bestrafen würde. Tief im Shinto, der zweiten japanischen Hauptreligion neben dem Buddhismus, ist dieser Harmoniegedanke und der Glaube an eine belebte Umwelt verwurzelt. Verehrt werden so genannte kami, "Gottheiten" im weitesten Sinne. Kami jedoch sind weder unfehlbar noch allmächtig. Sie finden sich verborgen in Menschen oder der Natur oder in Naturgewalten. Miyazakis Geschichten entspringen somit nicht dem Kalkül, ein gesellschaftlich brisantes Thema zu behandeln, sondern stellen vielmehr eine Lebensphilosophie dar, die er seinem Publikum über alle Altersgruppen hinweg ohne erhobenen Zeigefinger nahe bringen will.
Japanische Mythen und Kultur
Als Bildungsgeschichten im weitesten Sinne sind "Mein Nachbar Totoro" (Tonari no Totoro, Japan 1988) und angelegt, die beide in Miyazakis Heimatland Japan spielen. Gerade in diesen setzt sich Miyazaki intensiv mit der japanischen Kultur und Geschichte auseinander und
legt seine Protagonistinnen – meistens "besetzt" er seine Hauptrollen mit starken, selbstbewussten Mädchen – als Vorbilder für das Publikum an. "Mein Nachbar Totoro" führt heutigen Kindern detailliert das Leben auf dem Land in Japan Mitte der 1950er-Jahre vor Augen und verbindet den kindlichen Glauben an beschützende Geister mit dem Glauben an die belebte Natur. Für das zehnjährige Mädchen in wiederum wird der Aufenthalt in einer mythischen Parallelwelt zu einer moralischen Schule, in der sie Liebe, Respekt und Selbstlosigkeit lernt. Als sich ihr Vater verfährt, gelangt die Familie zu einem Marktplatz. Gierig stürzen sich Chihiros Eltern auf die reichhaltigen Speisen – und verwandeln sich in Schweine. In einem großen Badehaus für Geister und Gottheiten muss Chihiro fortan arbeiten, wenn sie ihre Eltern von dem Fluch befreien will. Als buntes Mosaik beschreibt Miyazaki diesen Film, der japanische Traditionen und Erzählungen mit der kulturellen Sozialisation und dem modernen Reifungsprozess eines jungen Mädchens verbindet.
Die Kulturen der Welt als Schatztruhe
Von grundsätzlicher Bedeutung für Miyazakis Werk ist zudem, wie fantastische und reale Welten fließend ineinander über gehen und zu einer neuen umfassenden Wirklichkeitserfahrung zusammengefügt werden. Miyazaki inszeniert diese Übergänge nicht als spektakuläre Brüche, sondern zeigt sie eher beiläufig – und lässt sie dadurch umso glaubhafter und normaler werden. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die detaillierten, atmosphärischen Hintergrundzeichnungen, die auf Miyazakis Biografie zurückweisen:
Bei Fernsehserien wie "Heidi" (Japan 1974) hat er seine Karriere als Hintergrundzeichner begonnen. Universell wirken seine Filme, weil er sich nicht nur auf die japanische Kultur bezieht. Vor allem die Einflüsse europäischer Geografie und Literatur sind unverkennbar. Die Fachwerkhäuser aus (Hauru no Ugoku Shiro, Japan 2004) oder "Kikis kleiner Lieferservice" (Majo no Takkyūbin, Japan 1989) erinnern an Deutschland. Die Ortschaft in (Tenkū no Shiro Rapyuta, Japan 1986) ist einem Dorf in Wales nachgebildet, das Miyazaki auf einer Recherchereise besucht hat. Zugleich aber spielen in dem Film auch Gerätschaften, die einem Roman von Jules Verne entsprungen zu sein scheinen, sowie eine schwebende Insel namens Laputa eine wichtige Rolle, die Miyazaki aus Jonathan Swifts Gullivers Reisen (Gulliver's Travel, 1726) übernommen hat, wenngleich sie bei ihm eine vollkommen andere Bedeutung erhält. Die Kulturen der Welt begreift Miyazaki als Schatztruhe, aus der er sich großzügig bedient. So entsteht eine neue Welt, wenngleich sie in dieser Zusammensetzung nur im Kino von Hayao Miyazaki existiert.