"Die Erde ist ein Irrenhaus", schrieb der Informatiker Joseph Weizenbaum in seiner Lebensbilanz, die im Januar 2008 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Wir gegen die Gier" veröffentlicht wurde. Ein Irrenhaus deshalb, weil "das bis heute erreichte Wissen der Menschheit aus der Erde ein Paradies machen" könnte. Doch was nützt all das Wissen, wenn die Menschheit nicht damit umgehen kann? Wenn, so seine Worte, statt Kooperation Konjunktur, statt Bescheidenheit unbegrenzter Konsum und statt Respekt vor dem Leben die Ehrfurcht vor dem Roboter regiert? Weizenbaum sah sich als Gesellschaftskritiker, ein Pessimist war er jedoch nicht, glaubte er doch fest daran, dass das "Wissen überlebt, nämlich indem es den denkenden Menschen buchstäblich informiert, also den Zustand seines Gehirns ändert".

Von Berlin nach Detroit

Joseph Weizenbaum wurde am 8. Januar 1923 als zweiter Sohn des Kürschnermeisters Jechiel Weizenbaum und seiner Frau Henriette in Berlin geboren. Im Jahre 1936 emigrierte die jüdische Familie in die USA und ließ sich in Detroit nieder – eine Erfahrung, die sein Leben prägte. Nicht nur, weil sich dort sein Interesse für Mathematik vertiefte. Er nahm sich nun versärkt als Außenseiter wahr: ein jüdischer Junge aus Deutschland, der anfangs kaum Englisch sprach und nicht Baseball spielen konnte. "Alles in meinem Leben hat mit meiner Emigration zu tun", erklärte er in einem Gespräch mit der Journalistin Gunna Wendt für das gemeinsam geschriebene Buch Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? (2006). "Daraus resultiert auch, dass eine gewisse Skepsis Teil meines Daseins geworden ist. Skepsis gegenüber Behauptungen, Äußerlichkeiten, scheinbaren Gewissheiten, Heilslehren."

Computer-Pionier

Nach dem Schulabschluss und einer kurzen Zeit beim Wetterdienst der US-amerikanischen Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs studierte Weizenbaum Mathematik, mit dem Plan, Wettermodelle zu berechnen. An der Wayne University Detroit beschäftigte er sich ab 1950 mit der Konstruktion und dem Bau eines der ersten Computersysteme – zu einer Zeit, in der Computer noch ganze Räume einnahmen. Von 1955 bis 1963 arbeitete Weizenbaum in der aufstrebenden Computerbranche und entwickelte unter anderem ein Computer-Banksystem, wie es heute in seiner Weiterentwicklung auf den Finanzmärkten gang und gäbe ist. 1963 erhielt er einen Ruf als Associate Professor für Applied Science und Political Science an das Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1970 wurde er dort zum ordentlichen Professor für Computer Science berufen, als sich diese junge Wissenschaft – in Deutschland Informatik – zu etablieren begann.

Künstliche Intelligenz

Internationale wissenschaftliche Verdienste erwarb sich Weizenbaum mit verschiedenen Studien zu den am MIT entwickelten Programmiersprachen LISP und SLIP. Diese sind eng mit der Forschung zur Künstlichen Intelligenz (KI) verknüpft. Darunter versteht man eine Forschungsdisziplin, die 1956 von den MIT-Wissenschaftlern John McCarthy und Marvin Minsky in Darthmouth begründet wurde. Ausgangsüberlegung war, dass Computer mehr können als Formeln berechnen und Daten speichern. Sie seien vielmehr in der Lage, mit Symbolen und Begriffen umgehen zu können – ähnlich wie der Mensch. "The computer is a thinking machine", formulierte der spätere Nobelpreisträger Herbert Simon dazu programmatisch. Seit ihrer Begründung hat die Künstliche Intelligenz beachtliche Erfolge erzielt, beispielsweise durch die computerisierte Spracherkennung oder den Schachcomputer, aber auch Niederlagen erlitten. Zu Letzteren gehört die im Jahr 1970 von MIT-Forscher Marvin Minsky formulierte Prognose, dass Computer bis zum Jahr 1980 Shakespeare lesen und darüber mit Menschen diskutieren können.

ELIZA und die Folgen

Als Meilenstein im Bereich der Künstlichen Intelligenz zählt ein 1966 von Weizenbaum geschriebenes Spracherkennungsprogramm, das er ELIZA nannte. Dabei können Menschen in einen schriftlichen Dialog mit einem Computer treten, der Verständnis simuliert. ELIZA ist ein sehr einfaches Programm, das auf eine kleine Anzahl von Schlüsselwörtern reagiert, die in den meisten Gesprächen vorkommen. So reagiert es auf Sätze mit dem Personalpronomen "my" (im Deutschen: meine/meines/meiner) etwa folgendermaßen:

Mensch: Ich habe Probleme mit meiner Schwester.
ELIZA: Erzähle mir mehr von deiner Schwester.

Mit ELIZA machte Weizenbaum die Entdeckung, dass Menschen der Maschine Intelligenz attestieren. Besonders verstörte ihn, dass einige Nutzer/innen eine intensive Beziehung zu dem Programm aufbauten und ihm selbst intime Geheimnisse anvertrauten. In der Folge entwickelte sich Weizenbaum vom technokratischen Computerwissenschaftler zum -kritiker und damit auch zum Kritiker einer Gesellschaft, die derartige Rechner produziert und an ihre Macht glaubt: "Der meiste Schaden, den der Computer potenziell zur Folge haben könnte", so Weizenbaum, "hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt".

Alptraum Computer

Seine Kritik an der Computertechnik, an der KI-Forschung und am Mythos vom fehlerfreien Programmieren erläutert er 1976 in seinem Hauptwerk Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Weizenbaum warnte davor, dass der Einsatz von Computern einen unumkehrbaren Einfluss auf den Menschen haben kann: "Ohne Frage hat die Einführung des Computers in unsere bereits hoch technisierte Gesellschaft […] die früheren Zwänge verstärkt und erweitert, die den Menschen zu einer immer rationalistischeren Auffassung seiner Gesellschaft und zu einem immer mechanistischeren Bild von sich selbst getrieben haben." Diese These von Weizenbaum ist immer noch aktuell: In dem Buch Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange? (2010) überträgt der IT-Experte Nicholas Carr Weizenbaums Gedanken auf das Internet-Zeitalter.

Wirkungen

Der kritische Ansatz Weizenbaums wurde in den 1980er-Jahren vor allem in der Bundesrepublik Deutschland intensiv diskutiert. So gründeten kritische Informatiker/innen das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF), das bis heute Weizenbaums Idee hochhält, dass die Informatik auch eine politische Wissenschaft sei. In den USA wurde Weizenbaum lange Zeit überhört, wird jetzt jedoch, wie das Beispiel Carr zeigt, verstärkt zur Kenntnis genommen. Nach seiner Emeritierung am MIT entschloss sich Joseph Weizenbaum, der sich selbst als "Heimatloser" bezeichnete, in Deutschland zu leben und Vorträge zu halten. Weizenbaum erhielt für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden im In- und Ausland. Sein letztes Programm schrieb er im Jahre 2006 und nannte es "New Eliza". Es war der Versuch, mittels Skype und einem digitalen Anrufbeantworter einen "simulierten Joe" (Joe für Joseph) für Diskussionen über künstliche Intelligenz anzubieten, den jedermann anrufen konnte. Joseph Weizenbaum starb am 5. März 2008 in Gröben bei Berlin.