Jeden Morgen um vier Uhr steht Alphonsine auf. Dann streift sie sich ihr T-Shirt über, putzt sich die Zähne und beginnt mit der Arbeit: Sie fegt den staubigen Platz vor der Hütte, holt Brennholz und stellt den schweren Kochtopf auf die Feuerstelle. Das Mädchen lebt in einem Dorf in der Elfenbeinküste und wohnt seit dem Tod seiner Mutter mit Geschwistern bei Tante und Großmutter. Etwa 13 Jahre ist Alphonsine alt. Andere Mädchen und Jungen lernen in ihrem Alter Lesen, Schreiben und Rechnen, doch sie muss den Haushalt führen. Wenn sie zu Hause alles erledigt hat, bringt sie Schulkindern das Mittagessen oder arbeitet auf einer Kakaoplantage. Macht sie mal einen Fehler oder ist müde, wird sie von der Großmutter geschlagen.

So wie Alphonsine, die in dem Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Nicht ohne uns!" porträtiert wird, geht es vielen Kindern. Zum Welttag gegen Kinderarbeit gab das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF 2016 an, dass weltweit etwa 168 Millionen Minderjährige arbeiten und deshalb nicht zur Schule gehen können – und das obwohl sie als Kinder das verbürgte Recht auf Bildung haben und vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden sollen.

Nicht ohne uns!, Szene (© Farbfilm Verleih)

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen

Festgehalten wird beides in der sogenannten UN-Kinderrechtskonvention, die am 20. November 1989 von fast allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen angenommen wurde. Dieses Übereinkommen schreibt für Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr in 54 Artikeln international verbindliche Rechte fest: etwa das Recht auf Leben und eine gesunde Entwicklung, aber auch den Anspruch auf einen Namen und eine Staatsangehörigkeit oder auf freie Zeit zum Spielen. Ebenso legt diese Vereinbarung fest, dass Heranwachsende geschützt werden sollen vor Gewalt, Ausbeutung oder Krankheiten.

UNICEF fasst die kompliziert formulierten Artikel der Kinderrechtskonvention in zehn Grundrechten zusammen, die als Basis der Kinderrechte gelten:

  • das Recht auf Gleichheit

  • das Recht auf Gesundheit

  • das Recht auf Bildung

  • das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung

  • das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln

  • das Recht auf gewaltfreie Erziehung

  • das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung

  • das Recht auf Schutz im Krieg und auf der Flucht

  • das Recht auf Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause

  • das Recht auf Betreuung bei Behinderung

Dass die UN-Kinderrechtskonvention auch tatsächlich umgesetzt wird, ist allerdings Aufgabe der jeweiligen Vertragsstaaten auf ihrem Staatsgebiet. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Abkommen zum Beispiel erst im April 1992 vom Deutschen Bundestag ratifiziert. Damit verpflichtete sich Deutschland, die Konvention umzusetzen. Außerdem muss die Regierung regelmäßig in festgelegten Zeiträumen einem Komitee der UN, dem "Ausschuss für die Rechte der Kinder", berichten, inwiefern Kinderrechte im Land gesichert sind und welche Fortschritte in dieser Beziehung gemacht wurden. Dieses Kontrollorgan kann zusätzliche Informationen anfordern oder auch Empfehlungen und Ratschläge aussprechen. In Deutschland gibt es seit Ende 2015 zudem eine Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte, die den Kinderrechten in der Bundesrepublik mehr Geltung verschaffen soll.

Kinderrechte - eine neue Errungenschaft

"Natürlich können Kinder ihre Kinderrechte für sich selbst einfordern", sagt dazu Uwe Kamp, Pressesprecher beim Deutschen Kinderhilfswerk. "An vielen Stellen machen sie das auch, sei es individuell in der Familie, in der Schule, in der Kita oder in ihrer Kommune. Vielfach tun sie das auch in organisiertem Rahmen, beispielsweise in Kinder- und Jugendverbänden, in Kinder- und Jugendparlamenten oder in Kinderforen." Möchte ein Kind aber ihm zugestandene Rechte einklagen, muss es erst in Deutschland vor Gericht gehen. Erst wenn das Verfahren vollständig abgeschlossen ist und dem Kind trotzdem nicht geholfen werden konnte, kann es mit seinem Anliegen vor die UN gehen.

International verbindliche Kinderrechte gibt es also noch nicht sehr lange, obwohl bereits 1924 – auf Betreiben der englischen Lehrerin und Kinderrechtsaktivistin Eglantyne Jebb – in Genf eine Satzung für Kinder vom Völkerbund verabschiedet wurde. Diese "Genfer Erklärung" formulierte Leitlinien für Kinderrechte, die in der Folge ergänzt und erweitert wurden.

Dass der Weg zur Anerkennung von Kinderrechten so lange dauerte, liegt zum einem daran, dass erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert "Kindheit" als ein vom Erwachsenenleben getrennter und eigenständiger Lebensabschnitt gesehen wurde. Zum anderen war es bis weit ins 20. Jahrhundert selbstverständlich, dass Kinder – zumindest in Familienbetrieben – mitarbeiten mussten. Das Recht auf Bildung (in der später verabschiedeten Kinderrechtskonvention ist dies der Artikel 28) konnte trotz Schulpflicht in weiten Teilen Deutschlands erst ab der Weimarer Republik umgesetzt werden, da es vorher lange kein flächendeckendes Schulsystem gab. Auch körperliches Strafen galt lange als legitimes Erziehungsmittel und wurde in Deutschland den Lehrkräften sogar erst 1973 verboten. Doch auch heute noch werden Kinderrechte missachtet, was oft mit sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen zu tun hat. Insbesondere die kulturellen Unterschiede werden in dem Dokumentarfilm "Nicht ohne uns!" in den Geschichten der 16 porträtierten Kinder deutlich.

Unterschiedliche Lebensrealitäten

Wie verschieden die Kinder aufwachsen, leben und behandelt werden, zeigt bereits ihr Weg zur Schule, der sich als roter Faden durch den Film zieht. Einige der im Film vorgestellten Jungen und Mädchen müssen oft lange und gefährliche Strecken bewältigen, was im Widerspruch zur Kinderrechtskonvention steht.

Eklas, die Tochter von nicht sesshaften Beduinen aus Jordanien, legt den Weg zusammen mit ihren Geschwistern und einem Esel zurück – einen Schulbus gibt es nicht. Im Winter ist der Weg mitunter so gefährlich, dass sie nicht in die Schule gehen können. Luniko aus Südafrika muss ein gefährliches Viertel seines Townships durchqueren, da der Schulbus für seine Mutter zu teuer ist. Yamabuki aus Japan wird zwar von einem Schülerlotsen sicher über den Zebrastreifen begleitet, passiert aber Teile der Stadt, die wegen des Reaktorunglücks in Fukushima verseucht sind. Alphonsine von der Elfenbeinküste darf gar nicht erst in die Schule. Der Schulweg steht in ihrer Geschichte als Metapher für den (schwierigen) Zugang zu und damit das Recht auf Bildung. Darüber hinaus werden so gut wie in jeder der Episoden weitere Rechte der porträtierten Kinder missachtet, was sich allerdings teilweise erst auf den zweiten Blick zeigt.

Nicht ohne uns!, Szene (© Farbfilm Verleih)

Missachtung von Kinderrechten

Im Gegensatz zu Alphonsine geht es Vincent aus Österreich auf den ersten Blick blendend: Er lebt mit seinen Eltern auf dem Berg Feuerkogel in dem Hotel, wo sein Vater arbeitet. Jeden Tag düst er den Berg auf Skiern hinunter zur Schule. Erst bei genauerem Hinsehen und -hören wird klar, dass auch Vincents Rechte zum Teil missachtet werden. So vermisst er seine Freunde. Später sieht man den Jungen auf dem Schulweg in ein ungesichertes Skigebiet fahren – stets hat er ein Lawinensuchgerät dabei, da es in dieser Gegend viele Lawinen gibt. Haben viele Kinder in "Nicht ohne uns!" einen weiten und gefährlichen Schulweg, weil die ökonomischen Verhältnisse der Eltern keinen näheren Wohnort zulassen, kann man bei Vincents Eltern davon ausgehen, dass sie sich auch anders hätten entscheiden können.

Lucila aus Argentinien lebt bei ihrer Mutter, die sich von ihrem Mann getrennt hat. Das Mädchen hat seinen Vater seit drei Jahren nicht mehr gesehen und vermisst ihn. Laut Artikel 9 der Kinderrechtskonvention hat Lucila aber das Recht, "regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen". Als Trennungsgrund gibt Lucila an, man könne sich auf ihren Papa nicht verlassen – das Recht des Kindes auf Kontakt gilt nur, "soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht."

Das Wohl des Kindes ist ein wichtiges Grundprinzip der Kinderrechtskonventionen, doch tatsächlich steht es nicht immer im Vordergrund. Das kann Sanjana täglich beobachten. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Rotlichtviertel in Indien. Verglichen mit einem in Deutschland aufwachsenden Kind hat sie es nicht leicht. Sie nimmt als Maßstab allerdings andere Mädchen in ihrem Alter: Im Gegensatz zu ihr wurden diese von ihren Vätern misshandelt und ins Rotlichtviertel verkauft, wo sie sich prostituieren müssen und auch nicht zur Schule gehen dürfen (Art. 28, Recht auf Bildung, Art. 32 Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung, Art. 34 Schutz vor sexuellem Missbrauch, Art. 35 Maßnahmen gegen Entführung und Kinderhandel).

"Nicht ohne uns!" bietet die Möglichkeit, nicht nur die offensichtlichen Kinderrechtsverletzungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu thematisieren, sondern eben auch die Schwierigkeiten und Rechtemissachtung von Kindern aus wohlhabenden Industrieländern. Sie alle haben das Recht, ernstgenommen und thematisiert zu werden. Auch wenn das bedeuten kann, dass es für uns Erwachsene etwas unbequemer wird.

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