Franziska Stünkel studierte Zum Inhalt: Drehbuch, Zum Inhalt: Regie und Fotokunst in Kassel und Hannover. Neben Zum Inhalt: Spielfilmen wie "Vineta" (DE 2006) inszenierte sie auch Videoclips von unter anderen Fury In The Slaughterhouse und Selig und arbeitet als Fotokünstlerin.

kinofenster.de: Frau Stünkel, wie sind Sie auf den Stoff zu Zum Filmarchiv: "Nahschuss" gestoßen?

Franziska Stünkel: Vor ungefähr zehn Jahren las ich einen Artikel, in dem erwähnt wurde, dass es in der DDR die Todesstrafe gegeben hat. Mich hat der Fakt an sich erschreckt, aber ebenso, dass ich davon nicht wusste. Im Laufe der vergangenen Jahre habe ich festgestellt, dass es vielen Menschen ähnlich geht. Der Zeitungsartikel führte dazu, dass ich damals begann zu recherchieren und auf ein Foto von Werner Teske stieß, der nach heutigem Wissen letzte in der DDR hingerichtete Mensch. Auf dem Foto war er 38 Jahre alt. Genauso alt wie ich, als ich die Aufnahme betrachtete. Ich fragte mich, was geschehen war.

kinofenster.de: Wie gestaltete sich Ihre Recherche?

Franziska Stünkel: Mir war es wichtig, auf unterschiedliche Quellen zurückzugreifen. Ich habe mit Zeitzeug/-innen, darunter ehemals Inhaftierten und Historiker/-innen gesprochen, Fachliteratur gelesen und viel in den Dokumenten aus der Zeit recherchiert. Der Recherche-Prozess lief parallel zur Arbeit am Drehbuch, die sich über acht Jahre erstreckte.

kinofenster.de: Zentral im Film ist das Todesurteil. Wie lautet die Begründung für das Todesurteil?

Franziska Stünkel: Der reale Werner Teske und die Figur Franz Walter hätten selbst nach DDR-Recht nicht zum Tode verurteilt werden dürfen. Begründet wurde das Urteil mit "vollendeter Spionage" und "versuchter Fahnenflucht". Beides ist jedoch absurd: Teske hat zwar geheimdienstliche Unterlagen entwendet, aber es wurden weder geheime Dokumente dem BND übergeben, noch fand ein Grenzübertritt statt.

kinofenster.de: Was ist der reale Hintergrund des Plädoyers der Staatsanwaltschaft für die Todesstrafe?

Franziska Stünkel: Es wird davon ausgegangen, dass das Urteil bereits vor dem Prozess feststand. Die Hintergründe des Plädoyers des Staatsanwalts sind vielschichtig. Einer der Hintergründe ist der Fall des Staatsicherheitsoffiziers Zum externen Inhalt: Werner Stiller (öffnet im neuen Tab), der sich 1979 in die Bundesrepublik abgesetzt hatte. Mielke erklärte 1980 in einem internen Schreiben, dass Verrat hart bestraft werden müsse. Später belegt ein Tondokument seine Worte, dass man Verräter zur Not auch ohne Gerichtsurteil hinrichten dürfe.

kinofenster.de: Wie gehen Sie mit der Schuldfrage im Film um?

Franziska Stünkel: Es lassen sich mit zeitlicher Distanz heute sehr leicht Urteile über die Entscheidungen von Menschen fällen. Das Handeln eines Menschen kann jedoch nur im konkreten historischen Kontext verstanden werden. "Nahschuss" erzählt von staatlicher Willkür: wie ein Unrechtssystem über das Leben entscheidet, aber auch, wie Menschen manipuliert und gegeneinander ausgespielt werden. Beispielsweise wird Franz in "Nahschuss" gedroht, dass man den wichtigen Operationstermin seiner Mutter verschiebt, wenn er nicht bereit ist "einen Gefallen" zu leisten. Es geht darum was Machtmissbrauch rigider politischer Systeme in einem Menschen anrichten kann.

kinofenster.de: Werner Teske hat elf Jahre für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der Staatsicherheit gearbeitet. Im Film scheint dieser Zeitraum wesentlich kürzer. Was ist der Grund für diese dramaturgische Entscheidung?

Franziska Stünkel: Das liegt in der Zum Inhalt: Gattung Spielfilm begründet. Ein gesamtes Leben lässt sich in 115 Spielfilm-Minuten bestenfalls oberflächlich erzählen. Ich habe mich auf die innere Entwicklung von Franz ab dem Zeitpunkt seiner beginnenden Arbeit in der HVA bis zu seinem Tod konzentrieren wollen. Dies ließ sich im Film in der Dauer eines Jahres ohne Zeitsprünge dichter und für mein Gefühl ebenso psychologisch schlüssig erzählen. Der Film zeigt, wie Franz Walter zunächst für die Staatsicherheit arbeitet und dann vergeblich versucht, seine Entscheidung der Zusammenarbeit, rückgängig zu machen. Der Gerichtsprozess und die Hinrichtung lehnen sich im Film nah an die Historie an.

kinofenster.de: Haben Sie sich daher gegen die lineare Erzählung entschieden? Der Film beginnt damit, dass Franz bereits inhaftiert ist.

Franziska Stünkel: Genau. Die Spannung sollte nicht daraus resultieren, dass die Zuschauenden sich fragen, ob Franz hingerichtet oder begnadigt wird. Der Fokus sollte auf dem inneren Prozess von Franz liegen, wie es einem Menschen ergeht, der aus politischen Gründen inhaftiert ist. Deswegen nimmt der Titel "Nahschuss" bereits das Ende vorweg und ebenso ist so die Anfangssequenz begründet, in der Franz vor Gericht steht und zuvor in einem Gefangenentransporter sitzt. Über eine Minute lang sehen wir nur sein Gesicht (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen). Seine Angst, sein Atem stockt. Wir fragen uns, was passiert ist. Zugleich werden damit der Rhythmus des Films – lange Einstellungen und wenige Schnitte ( Glossar: Zum Inhalt: Montage) – sowie die Bildsprache des Films eingeführt: Der Kameramann Nikolai von Graevenitz führt eine bewegte Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen). Wir wollten sprichwörtlich mit Franz ein Stück seines Lebensweges gehen, konsequent immer bei ihm sein. Damit geht auch der Verzicht auf einen Score einher. Zum Inhalt: Musik erklingt nur, wenn auch Franz im Film Musik hört - auf der Party oder auf Schallplatte. Heterodiegetische Musik kann die Emotionen der Zuschauenden beeinflussen. Das wollte ich nicht. Stattdessen soll sich das Atmen von Franz wie ein roter Faden durch den Film ziehen. Die Art, wie jemand atmet, sagt ja sehr viel über seine Befindlichkeit aus. Das zu verstehen ist wichtig: Nur wenn wir begreifen, wie es einem anderen Menschen geht, können wir ihm auch näherkommen.

kinofenster.de: Sie verzichten auf Zum Inhalt: Establishing Shots in Form einer Totale, die einen konkreten Ort einführt. Trotzdem haben Sie zum Teil an Originalschauplätzen (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) gedreht.

Franziska Stünkel: Das Drehen an historischen Orten war mir sehr wichtig. Wir haben unter anderem in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen und in der ehemaligen Zentrale der Staatsicherheit in der Berliner Normannenstraße drehen können. Diese Orte sind noch in ihrem Originalzustand erhalten. Die Ausdruckskraft der Orte ist enorm, wenn man dort viel Zeit verbringt. Das habe ich schon während der Drehbucharbeit gemerkt. Gedreht haben wir morgens ab vier Uhr, jenseits des Museumsbetriebs.

kinofenster.de: Bei Franz‘ erster Reise nach Hamburg sticht die Zum Inhalt: Farbgestaltung des Films deutlich hervor.

Franziska Stünkel: Franz fühlt sich überwältigt, sieht bei der Zugeinfahrt bunte Leuchtreklame, die Architektur Hamburgs. Die späteren Einstellungen – sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR – kommen mit deutlich gedeckteren Farben aus. Dies spiegelt Franz‘ Innenleben wider. Ich wollte darüber hinaus keine Klischees reproduzieren: auf der einen Seite der farbige Westen, auf der anderen Seite der graue Osten.

kinofenster.de: Was können Schülerinnen und Schüler durch "Nahschuss" lernen?

Franziska Stünkel: Der Film macht als Politdrama deutlich, was ein Unrechtssystem bedeutet. Dies gilt nicht nur für den Gerichtsprozess und die Hinrichtung Werner Teskes, sondern auch heute. Es gibt rigide politische Systeme, in denen Andersdenkende und Oppositionelle harter Verfolgung ausgesetzt sind. Die Todesstrafe ist nach wie vor in mehr als 50 Ländern im Strafgesetz verankert. Ich würde es sehr begrüßen, wenn sich Schülerinnen und Schüler mit dieser inhaltlichen Ebene auseinandersetzen. Ich würde mir aber auch wünschen, dass die formalen Aspekte befragt werden. Das Wissen, welche filmästhetischen Mittel welche Wirkung erzielen, spielt im Alltag gerade junger Menschen eine wichtige Rolle. Schülerinnen und Schüler sind nicht nur Zuschauende, sondern zunehmend selbst Produzent/-innen von bewegten Bildern.