Zum Filmarchiv: "Mommy" fällt durch seine eigenwillige Filmsprache und Bildgestaltung auf, die gleich in mehrfacher Hinsicht mit erzählerischen Konventionen bricht. Viele Einstellungen, Zum Inhalt: Kamerafahrten und -bewegungen erinnern an eine Bildästhetik, die man aus Filmen kennt, die Jugendliche mit ihren Smartphones oder anderen mobilen Endgeräten drehen. "Mommy" irritiert sowohl auf der Bild- als auch auf der Zum Inhalt: Tonebene. Deshalb lohnt sich ein genauer Blick auf einige spezifische Gestaltungsaspekte des Films. Sie bieten gutes Anschauungsmaterial für einen niedrigschwelligen Einstieg in die Filmpraxis mit dem Handy.

Ein ungewohntes Bildformat

Xavier Dolan hat als Autodidakt angefangen, Filme zu drehen. Sein Ansatz ist sehr emotional, intuitiv, und er folgt dabei keinen vorgeschriebenen Regeln. Entsprechend gewagt sind seine gestalterischen Ideen. In "Mommy" sticht vor allem das Zum Inhalt: quadratische Format im Zum Inhalt: Seitenverhältnis 1:1 hervor. Dieses widerspricht eigentlich unserer Filmwahrnehmung, die sich an das Querformat gewöhnt hat. Im quadratischen Seitenformat befinden sich Personen in Zum Inhalt: Naheinstellungen stets im Mittelpunkt und füllen den ganzen Zum Inhalt: Bildkader mit einer symmetrischen Bildbalance aus. Diese ausschnitthafte Fokussierung blendet andere Bildelemente und Räume aus, sie entziehen sich somit ihrer Beschreibung und Bearbeitung.

Mommy, Szene (© Weltkino)

Wenn Jugendliche mit dem Handy filmen, gibt es bezüglich der Kamerahaltung ein ähnliches Phänomen. Sie drehen oftmals unbewusst im Hochformat, weil es der normalen Handhaltung beim Telefonieren entspricht. Weil die Mediaplayer aber auf ein Querformat ausgelegt sind, erscheinen beim Abspielen im Bildfeld rechts und links schwarze Flächen. Dieser "Bedienungsfehler" kann aber, ähnlich wie es Dolan mit "Mommy" macht, auf kreative Weise angewendet werden. Das ist guter Einstieg für die Arbeit im Unterricht.

In einer Art Grundlagenübung können die Schülerinnen und Schüler in Partnerarbeit zunächst die formale und inhaltliche Wirkung von unterschiedlichen Formaten erforschen. Dazu werden aus großformatigen Fotokartons Passepartouts mit unterschiedlichen Seitenverhältnissen hergestellt. Eine einfache Szene wie der Dialog zweier Personen wird mehrfach gleichbleibend und ohne Ton gedreht. Bei jedem Dreh wird vom Filmpartner aber ein anderes Passepartout als Maske vor die Handylinse gehalten, durch das die Szene gefilmt wird. Anschließend werden die Ergebnisse verglichen und die Wirkungen der Bildausschnitte analysiert.

Kamerafahrten auf dem Longboard

Im Film gibt es mehrere Szenen, in denen Steve auf seinem Longboard surft. Die Kamera folgt ihm, begleitet ihn parallel oder fährt bei gleichbleibendem Abstand vor dem Jungen her. Bei den Objekten, die die Schülerinnen und Schüler für ihr Experiment auswählen, kann es sich entsprechend um Gegenstände handeln, die Großstadtleben und Mobilität symbolisieren und zu denen Jugendliche eine besondere Beziehung haben. Die faszinierenden Zum Inhalt: Bildperspektiven werden erzeugt, indem die Augenhöhe des Betrachters auf gleicher Höhe mit dem Longboard ist. Wie das Objekt selbst gleitet auch die Kameralinse und somit das Auge des Betrachters über die Straße.

In "Mommy" ziehen sich die Parameter Bewegung und Mobilität als roter Faden durch die Handlung. Diese Idee ist so alt wie das Kino selbst, sogenannte "Phantom Rides" waren im Stummfilm sehr populär. Speziell bei Handyfilmen besteht eine besondere gerätespezifische Verknüpfung zur Mobilität, denn das Handy ist kein starres und ungelenkes Kameraauge. Mit seiner geringen Größe und spontanen Verfügbarkeit eignet sich die Kamera bestens, um für das Filmen z.B. am eigenen Körper (Bild 1, links), an Fahrzeugen (Bild 2) oder an den verschiedensten Gegenständen als Aufnahmegerät befestigt zu werden.

Bild 1

Klaus Küchmeister

Bild 2

Klaus Küchmeister

Ungewöhnliche Perspektiven

Diese Kamerafahrten zeigen Perspektiven, die für Jugendliche ungewöhnliche sind und sich dadurch motivierend auf die Filmarbeit auswirken können. So lassen sich etwa vertraute Strecken und Wege neu erkunden und wahrnehmen. Oder die mobilen Gegenstände selbst werden zum Protagonisten im Film. Wer hat schon mal die Welt aus der Sicht einer Fahrradpedale beim Treten oder eines Einkaufwagens im Supermarkt gesehen? Die Arbeit mit dem Handyfilm fördert also die experimentierfreudige Ausarbeitung einer eigenen, gerätespezifischen Filmästhetik. Ziel ist die Erweiterung der Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Erlebnisfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. In dem kleinen Gerät steckt ein großes kreatives Potenzial, wenn mit der „handyspezifischen Filmästhetik“ auch eine eigene Handschrift entdeckt wird.

Handgemenge und Kampfszene

Am Schluss von "Mommy" sehen wir, wie Steve gegen seinen Willen von Wärtern eingefangen und in eine Anstalt eingeliefert wird. Diese Bilder besitzen eine unglaublich hohe Dynamik. Erreicht wird das mit den ästhetischen Mitteln einer entfesselten Zum Inhalt: Handkamera, die den Eindruck erzeugen, dass der Betrachter selbst Teil der Handlung wird und sich mitten im Geschehen befindet. Hierzu werden Bildwackler und Bewegungsunschärfen benutzt, die auch im Zusammenhang mit Handyfilmen bestens bekannt sind.

Im Unterricht sollte vermittelt werden, solche Bildstörungen nicht als fehlerhaft anzusehen, sondern sie wirkungsvoll einzusetzen, sodass sich der Betrachter der Handlung nicht entziehen kann und die Action als authentisch empfindet. Mit ähnlichen Absichten wurden auch in der Berichterstattung über den "Arabischen Frühling" Handyfilme in der Tagesschau gesendet. Diese subjektive Kamera kann sehr gut in einer Zum Inhalt: Plansequenz, also ohne anschließende Zum Inhalt: Montage, zum Einsatz kommen. Hierbei ist es wichtig, dass die Handlungsabläufe der einzelnen Personen und die der Kamera vor dem Dreh gut geprobt und koordiniert werden. Dazu eignen sich Inhalte und Methoden aus dem Theaterunterricht.

Spielerisch-experimentelle Prozesse

In einer komplexeren Aufgabenstellung können kürzere, selbstgefilmte Sequenzen zu "Minutenfilmen" montiert werden, beispielsweise Aufnahmen von unterschiedlichen Bewegungen und Aktivitäten in der Stadt, unterwegs auf dem Skateboard, der Wechsel vom Innen- in den Außenraum, neue Perspektiven auf der Rolltreppe, Straßenaktionen oder Performances im öffentlichen Raum. Weitere mögliche Umsetzungen sind eine Fahrradfahrt aus Sicht von Dynamo und Pedale (Bild 3, links oben), ein Abendessen aus Sicht des Bestecks (Bild 4) oder ein Besuch im Supermarkt aus der Blickrichtung einer Dose im Einkaufswagen und auf dem Förderband der Kasse. (Bild 5)

Bild 3

Klaus Küchmeister

Bild 4

Klaus Küchmeister

Bild 5

Klaus Küchmeister

Im Vergleich mit der gängigen Filmarbeit in der Schule bietet der Einsatz des Handys drei entscheidende Vorteile.

  • Die Filme entstehen in einem spielerisch-experimentellen Prozess, der das sofortige Überprüfen der Filmaufnahmen im Display und das anschließende Bewerten und Korrigieren durch Nachdrehen ermöglicht. Die sonst übliche Planung mit Zum Inhalt: Exposé oder Storyboard würde die Spontanität und Handlungsorientierung ausbremsen. Das Handy bietet einen unmittelbaren Einstieg in die Filmarbeit.

  • Die Filme werden in Gruppen von zwei bis drei Schülern gedreht und geschnitten. Das kann unproduktive Wartezeiten bei Einzelnen vermeiden. Die Folge ist eine intensivere Teilnahme am ganzen Entstehungs- und Gestaltungsprozess und dies wiederum führt zu einer größeren Identifikation mit dem Prozess der Filmarbeit und seinem Produkt.

  • Von der Planung über die Aufnahme und den digitalen Schnitt bis hin zur Präsentation erfahren die Schüler Filmarbeit in einem Lernkontext, der technische wie ästhetische, individuelle wie kollektive Erfahrungen ermöglicht.

Aus persönlicher Erfahrung kann ich berichten, dass die Ergebnisse solcher praktischer Filmarbeiten bei den Schülern oftmals erstaunte und freudige Reaktionen erzielen. Einer mit sinnlichen Erfahrungen verbundene Kompetenz wird heute in der Schule kaum noch Beachtung geschenkt. Die Arbeit mit dem Handyfilm im Unterricht hält dagegen.