Kategorie: Hintergrund
Imaginäre Begleiter/innen im Kinderfilm
Ich sehe was, was du nicht siehst
Manchmal haben Kinder Freunde/innen, die für die Außenwelt unsichtbar sind. Filme erzählen gerne von solchen Bekanntschaften, können sie doch die kindlichen Fantasiegefährten visualisieren.
Sie sind immer da. Ein Platz muss für sie frei gehalten werden. Manchmal tragen sie die Schuld, wenn etwas Unangenehmes passiert ist. Aber nur Kinder können sie sehen; denn Erwachsenen bleiben diese imaginären Freunde/innen verborgen.
Vom Seelentröster bis zum Sündenbock
Fantasiegefährten, sei es in Gestalt eines anderen Kindes oder einer Person mit magischen Kräften, sind bei Kindern im Vorschulalter weder eine Seltenheit noch ein Anlass zur Beunruhigung. Die neuen, exklusiven Freunde/innen, die wahlweise als Seelentröster, Berater und Begleiter oder aber als Sündenböcke dienen, treten häufig in einer Phase auf, in der die Kinder mit neuen Anforderungen umzugehen haben wie etwa nach der Trennung der Eltern oder dem Umzug an einen neuen Ort. In den neuen Freunden/innen können sich Gefühle, Sorgen und Ängste auf eine Art und Weise manifestieren, die für die Kinder greifbar werden und mit denen sie umgehen können. Hier tragen sie imaginär und praktisch Konflikte aus, führen Zwiegespräche und finden spielerisch Lösungen. Zudem erschaffen sie sich so Vertraute, die sich der Kontrolle der Eltern – und der Angewiesenheit auf Eltern – vollständig entziehen. Die imaginären Freunde/innen, die normalerweise nach einiger Zeit wieder verschwinden, tragen so bedeutend zur psychischen Entwicklung von Kindern bei.
Fantasiegefährten/innen im Film
Zahlreiche Kinderbücher erzählen von solchen Bekanntschaften und auch im Kino bieten diese Geschichten einen besonderen Reiz, können sie sich doch voll und ganz auf die Seite ihrer jungen Protagonisten/innen schlagen und die Welt mit deren Augen zeigen. Für die jungen Filmhelden/innen sind ihre neuen Freunde/innen daher alles andere als unsichtbar. Vielmehr treten diese in das Leben der Kinder ein wie echte Personen. Und so werden diese imaginären Begleiter/innen auch für das Publikum überaus real und ernst genommen wie andere Figuren. Ohnehin sind Fantasiewelt und Realität in der Wahrnehmung von Kindern nicht so klar getrennt wie bei Erwachsenen und gehen auch im Alltag fließend ineinander über.
Mein Freund, der Zweig
Kein Zweifel besteht daher etwa daran, dass das sprechende Holzstück in Zum Filmarchiv: "Mein Freund Knerten" (Knerten, Åsleik Engmark, Norwegen 2009) für den kleinen Lillebror tatsächlich lebendig ist. Der ungewöhnliche Zweig fällt dem Jungen gerade rechtzeitig vor die Füße. Denn nach dem Umzug seiner Familie aufs Land hat er noch keine Kinder zum Spielen gefunden. Der Zweig, der sich als Knerten vorstellt, erlöst ihn aus seiner Einsamkeit. Gemeinsam bekämpfen sie Drachen im Wald, und als Knerten einmal in die Hände zweier Mädchen fällt, die ihm Kleider anziehen, rettet ihn Lillebror. Knerten ist kein Sündenbock, sondern Ersatz für echte Freunde/innen. Zumindest so lange, bis Lillebror die "Prinzessin" kennen lernt, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. In Knerten spiegeln sich die Ängste und Wünsche von Lillebror. Und weil die Erwachsenen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind – und ohnehin keine Fantasie haben, wie Knerten einmal erklärt – , findet Lillebror in seinem imaginären Freund einen Vertrauten auf Augenhöhe, durch den er an Selbstbewusstsein gewinnt.
Unterwegs mit dem Waldgeist
Ganz ähnlich geht es den Geschwistern Satsuki und Mei in Zum Filmarchiv: "Mein Nachbar Totoro" (Tonari no Totoro, Hayao Miyazaki, Japan 1988), die im ländlichen Japan der 1950er-Jahre leben. Während der Vater in der Stadt arbeitet, sorgen sich die Mädchen um ihre Mutter, die in einem weit entfernten Krankenhaus liegt. In dieser schweren Zeit erscheint beiden – der jüngeren Schwester zuerst – ein seltsames Wesen, das an eine Kreuzung aus Bär und Katze erinnert. Es nimmt sie mit auf eine fantastische Fahrt in einem fliegenden Katzenbus zum Krankenhaus und zeigt ihnen seine magischen Kräfte, wenn es nachts mit den Kindern Bäume wachsen lässt. Die Geschwister finden in ihrem Begleiter Trost, weil er sie ablenkt, mit ihnen die Schranken der Realität überschreitet und sie auf eine abenteuerliche Reise mitnimmt. Der Vater kann das Wesen, das Mei Totoro getauft hat, nicht sehen. Aber er sieht, dass es seinen Töchtern hilft und vermutet in ihm den Geist des Waldes. Sobald es der Mutter besser geht, verschwindet Totoro wieder.
Der imaginäre Freund als Spiegel
Sind die imaginären Freunde in Zum Filmarchiv: "Mein Freund Knerten" und Zum Filmarchiv: "Mein Nachbar Totoro" – beides überaus heiter erzählte Filme – von Anfang an als solche erkennbar, so wird die wahre Natur des neuen Freundes des Schülers Ton in "Das Internat" (Dek hor, Songyos Sugmakanan, Thailand 2006) erst am Ende des Films verraten. Der 2007 im Berlinale-Wettbewerb Generation Kplus von der Kinderjury mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnete Film vermischt ein Furcht einflößendes Zum Inhalt: Production Design/AusstattungSetting und Horrorelemente mit der Wahrnehmung eines Jungen, der von seinem Vater in ein abgelegenes Internat abgeschoben wird. Während die Schüler/innen sich dort Geschichten vom Geist eines ertrunkenen Jungen erzählen, freundet sich Ton mit Vichiens an, der wie Ton ein Außenseiter ist. In ihm findet er einen Vertrauten, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Die Vorstellungswelt eines Kindes trifft in dieser Geschichte auf traditionellen asiatischen Geisterglauben und verknüpft diese zur einer Erzählung über die Angst vor Einsamkeit und dem Umgang mit Schuld – ein deutlich ernsthafterer Umgang mit Fantasiewelten, in dem sich in dem unsichtbaren Freund auch eigene Ängste spiegeln.
Nicht nur für Kinder
Erfundene Begleiter/innen tauchen jedoch wiederholt auch in Filmen für Jugendliche oder Erwachsene auf. So kann sich in Zum Filmarchiv: "Ben X" (Nic Balthazar, Belgien, Niederlande 2007) die am Asperger-Syndrom erkrankte jugendliche Hauptfigur mit Hilfe einer imaginären Freundin gegen die Mobbing-Attacken seiner Mitschüler/innen wehren. Weniger positiv gestaltet sind imaginierte Gegenüber dagegen im "Erwachsenenfilm", verweisen sie doch meist auf psychische Störungen. Entsprechend häufig findet sich dieses Motiv deshalb in Psychothrillern und Horrorfilmen. Die Figur etwa, die sich in (David Fincher, USA 1999) als Hirngespinst und Alter Ego des Protagonisten entpuppt, ist bedrohlich und zeigt seelische Abgründe auf. Im Kinderfilm versprechen die imaginären Freunde/innen dagegen Beistand, Mut und Kraft. Ein bisschen unheimlich mögen sie zwar manchmal sein. Aber dafür behalten die kindlichen Erfinder/innen auch die Kontrolle über ihre Fantasiegefährten. Und wenn sie ihren Dienst erfüllt haben, verschwinden sie wieder und lassen die Kinder gestärkt und zuversichtlich zurück.