Die österreichische Kinder- und Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger wurde 1936 in Wien geboren. Nach dem Krieg absolvierte sie ihre Matura (österreichische Hochschulreife) und begann zunächst ein Studium als Gebrauchsgrafikerin an der Akademie für angewandte Kunst. Zum Schreiben kam sie in den 1970er-Jahren eher zufällig. 1973 bekam sie den Deutschen Jugendliteraturpreis für den Roman "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig", etliche weitere Kinder- und Jugendbücher folgten. Im selben Jahr erschien auch ihr autobiografischer Roman "Maikäfer, flieg!", der von ihren Erlebnissen in den letzten Kriegstagen erzählt und nun von Mirjam Unger verfilmt wurde.

Sie haben das Buch über Ihre Kindheitserinnerungen fast 30 Jahre nach Kriegsende verfasst. Wie kamen Sie damals dazu und warum haben Sie sich für diesen speziellen Zeitraum, die letzten Tage und Wochen des Zweiten Weltkrieges, entschieden?

Mit der politischen Situation in den 1970er-Jahren hatte es überhaupt nichts zu tun. Ich wollte einfach ein Buch über meine eigene Kindheit schreiben und diese bestimmte Zeit war eine der erlebnisreichsten. Zum anderen wollte ich eine Geschichte über die russischen Soldaten schreiben, die ja damals ein Feindbild waren, und für mich waren sie das nicht.

Wie haben Sie und Ihre Familie während des Krieges gelebt, bevor Sie, wie im Buch beschrieben, nach Neuwaldegg (am Stadtrand von Wien) umgezogen sind?

Wir haben in einer typischen Arbeiterwohnung im 17. Bezirk in Wien gewohnt, mit Zimmer, Küche, Kabinett, Toilette am Gang und ohne Badezimmer. Meine Großeltern haben im gleichen Haus gewohnt, mein Vater war als Soldat in Russland. Ich habe meine ersten zweieinhalb Schuljahre in der Nazi-Zeit erlebt. Meine Lehrerin, die dicke Antonia Stolle, war keine Nationalsozialistin, aber natürlich musste sie sich auch an die Vorgaben halten und wir mussten immer diesen vertrottelten Spruch des Tages aufsagen: "Wir wollen werden flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl." Aber in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es viele Sozialdemokraten und Kommunisten. Ich habe also als kleines Kind immer gehört, dass der Krieg verloren werden muss und hinterher langsam die goldenen Zeiten anbrechen werden.

Hat Ihre Familie versucht Nachrichten zu hören oder zu lesen, abseits der nationalsozialistischen Propaganda?

Meine Mutter hat Radio gehört, aber Zeitungen wie den "Völkischen Beobachter" verachtet und gar nicht erst gelesen. Mein Großvater hat ganz geheim BBC gehört. Das war gar nicht so einfach, weil die Radiogeräte nicht sehr gut waren. Er ist immer auf allen Vieren in seinem Kabinett (Anm. d. Red.: kleines Zimmer mit Fenster) herumgekrochen und hat unter einer Wolldecke versucht den Sender einzufangen.

Wie viel hat man in Ihrer Familie während des Krieges tatsächlich über die Gräueltaten der Nationalsozialisten gewusst?

Meine Familie hat alles gewusst. Ich kann nicht beurteilen, ob das überall so war, denn der Bruder meiner Mutter war ein sehr hohes Mitglied der SS. Da ging wie bei vielen die Kluft mitten durch die Familie. Ich kann mich erinnern, dass er einmal bei uns zu Besuch war, und ich saß da und habe etwas vor mich hingezeichnet, meine Mutter und er standen vor mir und er sagt zu ihr: "Ella, die Juden gehen alle durch den Rauchfang." Daraufhin hat sie ihm eine Ohrfeige gegeben. Mich hat das wahnsinnig beeindruckt. Ich habe meine Mutter dann gefragt, was es bedeutet, dass die Juden "durch den Rauchfang gehen" und sie hat es mir erklärt.

Hatten Sie im privaten Umfeld oder in der Schule jüdische Freundinnen und Freunde?

Nein, die waren zu diesem Zeitpunkt schon weg. Ich kam erst im Herbst 1942 in die erste Klasse. Meine Schwester, die fünf Jahre älter war als ich, ging während der Nazi-Zeit schon ins Gymnasium und hatte eine Halbjüdin in der Klasse, die sich mit falschen Papieren durchmogeln konnte, bis sie irgendwann aufgeflogen ist und weggebracht wurde. Meine Schwester hatte im Gegensatz zu mir lauter Nazi-Lehrer, die dann sagten: "Solche Elemente brauchen wir nicht in dieser Schule." Eben diese Lehrer bekam ich dann 1946, als ich ins Gymnasium kam, und sie waren alle nach dem Krieg nahtlos "Demokraten" geworden. Es ist ihnen nichts passiert.

Wie war es für die Kinder, die schon in der NS-Zeit geboren wurden, also Zeit ihres Lebens nie etwas anderes gehört hatten, als der Krieg vorbei war?

Ich hatte im Gymnasium Freundinnen, deren Eltern Nazis waren, und ich glaube nicht, dass die mit den neuen Umständen große Probleme hatten. Ich weiß, dass es immer noch Antisemitismus gab.

Sie haben an der Zum Filmarchiv: "gleichnamigen Verfilmung" Ihres Romans nicht mitgewirkt, aber wie würden Sie sagen, sehen Kinder diese Geschichte über den Zweiten Weltkrieg heute?

Naja, als eine sehr vergangene Geschichte. Für Kinder sind 70, 80 Jahre ja eine Ewigkeit.

Es warnen heute viele davor, dass wir wieder auf ähnliche Zeiten zusteuern mit Fremdenhass und rechtspopulistischen Parteien an der Macht. Würden Sie das auch so vergleichen?

Ja, man könnte Angst kriegen. Es heißt immer: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es wiederholt sich, dass die Leute gleich deppert sind. Und dass all diese Populisten demokratisch gewählt wurden, beruhigt mich überhaupt nicht, denn auch Hitler wurde demokratisch gewählt. Sicher hat es damals Leute gegeben und gibt es auch heute Menschen, die aus diesem Rechtsruck Gewinn ziehen, aber die meisten, die so wählen, schaden ja sich selbst und verstoßen gegen ihre eigenen Interessen. Die Welt wird immer schwieriger zu erklären und die Informationen werden immer mehr, können also noch weniger als früher verarbeitet werden. Und dann kommen eben manche mit so einfachen Sätzen wie: "Die Ausländer sind schuld".