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Einübung des kindlichen Blicks – Elemente des magischen Realismus in "Land der Wunder"
Märchenhafte Motive haben im neorealistsichen Kino Tradition. "Land der Wunder" benutzt fantastische Effekte für eine sinnliche Durchdringung der Wirklichkeit.
Wunder in einem übernatürlichen Sinne ereignen sich in Zum Filmarchiv: "Land der Wunder" nicht. Der Originaltitel von Alice Rohrwachers Film, "Le Meraviglie" , besitzt wie dessen wörtliche Übersetzung ins Deutsche, das Wunder, viele Konnotationen. Beide Wörter bezeichnen ein Spektrum an Überwältigungserfahrungen, das von der religiösen Offenbarung bis hin zum naiven Staunen reicht. Rohrwacher geht es bei diesem Begriff aber nicht um eine Überhöhung der sozialen Verhältnisse, denen ihre Figuren mithilfe eines „Zaubertricks“ zu entfliehen versuchen. Im Gegenteil sind die wundersamen Momente des Films tief in der Lebenswirklichkeit ihrer Figuren verwurzelt.
Das Wunder der Kindheit
Diese Realität ist in "Land der Wunder" in zwei Sphären getrennt: In der Arbeitswelt hat der Vater (zunächst unangefochten) das Sagen. Sie ist definiert durch die Prinzipien von Produktion und Wettbewerb, die die Utopie eines alternativen Lebensentwurfs schließlich wieder in Form einer politischen Reglementierung in die Wirklichkeit zurückholen. Die andere Sphäre ist das Reich der Sinne und hier haben die Frauen, insbesondere Gelsomina und ihre jüngeren Schwestern, die Oberhand. Sorgfältig platziert die Regisseurin kleine – im besten Wortsinn – Sensationen, sinnliche Reize, im von Arbeit und Entbehrungen strukturierten Alltag der Familie: fantastisch anmutende Einlassungen in die rationale Welt der Erwachsenen, für die sich die Eltern unempfänglich zeigen, die in der Wahrnehmung der Kinder aber eine zunehmend zentrale Rolle einnehmen.
Gelsomina und ihre Schwestern, etwas zögerlich auch Martin, machen sich diese Erfahrungen in spielerischer Weise zu eigen, etwa wenn die Mädchen staunend dem Pfeifen des Jungen lauschen, einer wunderschönen und gleichzeitig befremdlichen Melodie, in deren Herkunft sich ein Geheimnis verbergen könnte. Die Kinder brechen also mit offenen Augen und Ohren in die Welt auf, und Rohrwacher besitzt die Geistesgegenwart und Sensibilität, ihren Entdeckergeist mit einer zurückhaltenden, geradezu empirischen Inszenierung zu fördern, die der kindlichen Neugier zu ihrem vollen Recht verhilft. Denn was die Mädchen im Spiel erleben, ist nichts Geringeres als das Wunder der Kindheit selbst.
Im Reich der Sinne
Rohrwacher praktiziert eine filmische Methode, die man als Einübung des kindlichen Blicks beschreiben könnte. Diese Perspektive überträgt sich unmittelbar auf die Zuschauenden, die das Reich der Sinnesempfindungen – das Pendant zur Dingwelt der Arbeit – durch die Augen der Kinder erleben. Diese Wahrnehmung ist durchaus differenziert. Die Regisseurin präsentiert, entsprechend den Altersstufen der vier Mädchen, "Wunder" unterschiedlicher Qualität als gleichberechtigt nebeneinander existierende Ereignisse. Der zwölfjährigen und damit langsam pubertierenden Gelsomina etwa entlockt das Kamel, das eines Tages wie durch Zauberei vor dem Haus steht, keine Begeisterungsstürme mehr, wohingegen ihre jüngsten Schwestern Caterina und Luna beim bloßen Anblick des exotischen Tieres vor Freude kreischend über das Grundstück fegen.
Übersinnliche Effekte
Gemeinsam schaffen diese Sensationen der kindlichen Wahrnehmung, die gleichzeitig eine Irritation des väterlichen Status quo darstellen, eine von fantastischen Motiven durchwirkte Realität. Diese Sinneseindrücke besitzen eine immaterielle Qualität, so wie auch das kraftvolle Sonnenlicht die italienische Landschaft durchdringt und ihr zu einem innerlichen Leuchten verhilft. Doch die Sensationen sind an die Inszenierung von körperlicher Arbeit gebunden, die "Land der Wunder" eine quasi- Zum Inhalt: dokumentarische Form geben. Dieses Nebeneinander von übersinnlichen Effekten und nüchternen Alltagsimpressionen, wie es vor allem in der Literatur des magischen Realismus anzutreffen ist, verweist auf die neorealistische Tradition des italienischen Nachkriegskinos, in der das meraviglie immer auch eine Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse bedeutete. In Vittorio De Sicas "Das Wunder von Mailand" von 1951 ist es der gute Geist der toten Mutter, der dem Waisenjungen Toto magische Kräfte verleiht und mit denen er schließlich dem Einfluss der reichen Investoren trotzt. Die Schlusseinstellung ist ein Wunder par excellence: Die Bewohner der ärmlichen Hüttensiedlung erheben sich, angeführt von zwei Engeln, in die Lüfte und schütteln die Fesseln der Ausbeutung ab.
In "Land der Wunder" fungieren magische Elemente nicht als Gegensatz zur rationalen Welt. Sie ermöglichen vielmehr einen neuen Blick auf die Realität und öffnen somit, in Anlehnung an den französischen Filmtheoretiker Alain Bergala, die Sinne für kompositorische Nuancen: Licht, Klänge, Farben, den Rhythmus des Lebens, der die "Wunder" in seinen natürlichen Fluss integriert. Kurz: Alle Einflüsse, die eine unvoreingenommene Wahrnehmung der Welt fördern und schließlich bei Gelsomina die Erkenntnis reifen lassen, dass die Sicht des Vaters nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
Gelsomina und die Bienen
Gelsomina steht zwischen der Welt der Dinge und dem Reich der Sinne – schon in der Art und Weise, wie sie vom Vater im Familienalltag in die Pflicht genommen wird. Aber sie versteht es auch, die beiden Sphären in Einklang zu bringen. Ihre innige Beziehung zu den Bienen geht weit über das "Arbeitsverhältnis" des Vaters mit den Tieren hinaus. Wolfgang muss sich nach jeder Honigernte die Stacheln aus dem Rücken entfernen lassen. Gelsomina nimmt zwei der Bienen sogar in den Mund und lässt diese, ihr verblüffendster Trick, zu der Melodie Martins über ihr Gesicht krabbeln. Für die Kinder ist die Arbeit keine ausschließlich körperliche Tätigkeit, sie ist auch eine haptische Erfahrung. Besonders eindrucksvoll ist das zu sehen, als Gelsomina nach dem Unfall mit der Zentrifuge den übergelaufenen Honig beidhändig vom Boden abschöpft.
Emanzipation vom Vater
Eine andere Kategorie von Wunder stellt wiederum die Fernsehshow dar, in der Gelsominas Familie gegen andere Bauernfamilien aus der Provinz antritt. Das Fernsehen fungiert hier ebenfalls als Bindeglied zwischen den Sphären: Es ist möglicherweise die letzte Hoffnung, den Familienbetrieb vor dem finanziellen Ruin zu retten, es bedeutet aber auch eine Flucht vor dem strengen Regime des Vaters. Kein Wunder, dass Gelsomina die Idee, an dem Wettbewerb teilzunehmen, nicht mehr loslässt. Die Pappmachee-Fantasiewelt, aus der die Moderatorin Milly Catena wie eine Märchenfee heraustritt (und den Mädchen ein Haar schenkt, das – wie eines von ihnen bemerkt – aus der Gischt des Meeres gesponnen zu sein scheint), verkörpert alles, was den Mädchen im Leben auf dem Hof verwehrt bleibt. Für Gelsomina symbolisiert die Fernsehshow mit dem verheißungsvollen Titel "Land der Wunder" die allmähliche Emanzipation vom dominanten Vater. Erst hat sie sich mit den Bienen gegen ihn verschworen. Am Ende führt sie mit dem "gefährlichen" Martin, im Genre-Verständnis des Jugendfilms ein juvenile delinquent, ein Kunststück auf, das die Erwachsenen mit ihren hilflosen Erklärungsversuchen der Welt ziemlich alt aussehen lässt.
Magischer Realismus
Der magische Realismus ist eine künstlerische Bewegung, die verstärkt in den 1920er-Jahren in Europa und Südamerika aufkam. Im magischen Realismus verschmelzen Eindrücke aus der rationalen Welt mit unwirklichen, traumhaften und fantastischen Elementen. Durch seine visuelle Gestaltungskraft hatte er einen bedeutenden Einfluss auf die Malerei vor dem Zweiten Weltkrieg sowie später auf das Kino, speziell den italienischen Neorealismus und das postkoloniale Kino Lateinamerikas. Elemente des magischen Realismus finden sich auch im Surrealismus.