Rätsel knacken

Der Kern jeder Erzählung über Kriminalität ist das Rätsel. Es drückt sich aus in einer Reihe von Fragen: Wer ist der Täter oder die Täterin? Warum und wie wurde die Tat begangen? Wird der/die Schuldige bestraft oder kann er/sie entkommen? Eine der ersten großen Geschichten über ein Verbrechen wurde auf der dramatischen Bühne erzählt. Der griechische Autor Sophokles brachte um das Jahr 427 v. Chr. einen typischen "Whodunit" zur Aufführung. Sein Held Ödipus ist Ermittler und Täter zugleich – eine raffinierte Konstruktion. Unwissentlich hat Ödipus den Vater getötet, die Mutter geheiratet und so die Pest über Theben gebracht. Am Ende bestraft er sich durch Blendung selbst.

Bedrohung der sozialen Ordnung

Das Auditorium im Athener Dionysostheater dürfte bei diesem Fall genauso gespannt mitgerätselt haben wie auch heute das Kinopublikum, wenn auf der Leinwand ein Kriminalfilm läuft. Denn nichts fesselt die Aufmerksamkeit so sehr wie die Neugier, hinter ein Geheimnis zu kommen. Der Zuschauende ermittelt im Geiste mit und hat seinen Spaß wie am Knacken anderer Rätselnüsse. Doch schon Sophokles hat gezeigt, dass diese Neugier nicht reine Privatsache ist. In seinem Drama hängt das Überleben der städtischen Gemeinschaft von der Entlarvung des Täters ab. Ein/e Täter/in ist stets eine soziale Bedrohung, ist Auslöser von Angst. Ihm steht das Opfer gegenüber – und zum Opfer kann jede/r werden, wenn ein/e Täter/in unterwegs ist. Wer sich auf Geschichten vom Verbrechen einlässt, auch wenn sie bloß erfunden sind, kann sich in – gleichwohl unangenehmen – Lebenssituationen üben, ohne an Leib und Seele Schaden zu nehmen, und bearbeitet zudem individuelle wie auch soziale Ängste. Wir wissen, dass das Spiel eine Übung für soziales Verhalten ist.

Verbrechen lohnt sich nicht

Im Fall von Kriminalgeschichten bleibt dieses Spiel aber ambivalent, besonders wenn sie nicht im hohen Abstraktionsgrad von Literatur, sondern mit der sinnlich überwältigenden Macht von Filmbildern erzählt werden. Denn Bilder machen vertraut, auch mit dem Verbrechen. Deswegen hatte das klassische Hollywood-System die Parole ausgegeben, dass sich Raub, Mord und Entführung auf der Leinwand nicht auszahlen dürfe. Filme waren Lehrmittel für Moral. Das Verbrechen fungierte als Aufhänger, um seine Aufdeckung und Bestrafung als Mahnung in Szene zu setzen. Die Verhältnisse von Gut und Böse luden eindeutig zur Identifikation ein. John Cromwells "Späte Sühne" (Dead Reckoning, USA 1946) war so ein Film. Spätestens mit Beginn der Schwarzen Serie, also dem so genannten Film Noir in den 1940er-Jahren der USA, war es mit den Eindeutigkeiten jedoch vorbei.

Wohlige Schauer

Der Krimi gilt als Genre der Dämmerung oder gar der Nacht, die vieles verdeckt. In tiefen Schatten kann das scheinbare Opfer sich zum Täter, zur Täterin wandeln, im Dunkeln lauert die Gefahr. In diesem Klima manipulieren die Regisseure/innen die Emotionen des Publikums. Sie lassen das Verbrechen entweder schockartig in die Szene brechen oder geben wie Alfred Hitchcock den Zuschauern/innen Informationen, die den Protagonisten/innen fehlen. Im ersten Fall nähert sich der Kriminalfilm dem Horror an, im zweiten erzeugt er jenes Fiebern, jenen "Suspense", um das Schicksal von Heldin oder Held, das als unterhaltsame Spannung genossen wird – eine Erregung, die sich wieder legt, wenn der Fall aufgeklärt ist und das Publikum mit dem Gefühl nach Hause gehen kann, dass die alte Ordnung wieder hergestellt wurde.

Einmal böse sein

Ein Kitzel des Kriminalfilms ist die spielerische Sympathie für den/die Kriminellen. Gewalt und Verbrechen schrecken ab, faszinieren aber gleichzeitig auch. Im Kino kann die heimliche Lust ausagiert werden, selbst rebellisch an Gesetz und Ordnung zu rütteln – und das ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Diese Möglichkeit zur Identifikation hat ein eigenes Subgenre hervorgebracht: den Gangsterfilm. Hier sind die Kriminellen ganz offiziell die Helden/innen. Selbst wenn sie ihrer "gerechten" Strafe zugeführt werden, ist ihnen oft ein heroisches Ende gegönnt. So jagt sich etwa James Cagney in der Rolle des Gangsters in Raoul Walsh' "Maschinenpistolen" (White Heat, USA 1949) auf einem Benzinbehälter selbst in die Luft.

Die normale Kriminalität

Geht es im Film um Korruption oder um Selbstjustiz – wie in vielen Polizeifilmen, in denen Ermittler wie etwa Clint Eastwood als "Dirty Harry" (Don Siegel, USA 1971) selbst strafwürdig sind –, so arbeitet der Krimi als kritisches Genre. Er zeigt Verstrickungen und Verwicklungen auf, wie sie in der Gesellschaft existieren. Die vielen Mafia-Filme sind Musterfälle solcher Kritik am Alltäglichen. In Deutschland und in den skandinavischen Ländern hat in den letzten Jahren eher der Fernsehkrimi und weniger der Kinokrimi Gesellschaftskritik geübt. Das kriminelle Delikt erscheint in diesen Zusammenhängen nicht als Bruch mit der Normalität, sondern als Teil der Normalität. Spannung und die Schärfung sozialer Aufmerksamkeit gehen Hand in Hand.

Blick in den Abgrund

Die Frage, warum eine Tat geschieht und was einen Menschen zum Verbrechen treibt, wird vor allem im Subgenre des (Psycho-)Thrillers behandelt. Spielfeld ist die Seele des Kriminellen. Einst verwickelte der Film Noir das Publikum in die Leidenschaften und Abhängigkeiten, die zu Mord und Totschlag führen. Der Reiz der Geschichten bestand darin, dass das Verbrechen nicht intellektuell einsichtig, sondern emotional nachvollziehbar wurde. Seit den Thomas-Harris-Verfilmungen (The Silence of the Lambs, USA 1991) von Jonathan Demme und Hannibal (USA 2001) von Ridley Scott ist das Abgründige verbrecherischer Seelen aber zur zynischen Normalität der Krimi-Leinwand geworden. Das Publikum, hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu, genießt die Eskapaden eines killenden Kannibalen, der strafender Gerechtigkeit wie selbstverständlich entrinnt. Der Trend wird durch erfolgreiche Serien um Serienkiller, wie etwa die SAW-Filmreihe "Saw I-V" (USA 2004-2008) bestätigt. Die Zuschauer/innen scheinen Appetit zu haben auf Extreme. Solche Schaulust setzt den Schock voraus. Aber auch kleine, feine Thriller-Spiele wie Woody Allens (USA/GB 2005) finden noch ihr Publikum.