Die 14-jährige Nora, Hauptfigur der Zum Inhalt: Coming-of-Geschichte Zum Filmarchiv: "Kokon", lebt in Berlin-Kreuzberg und erlebt einen Sommer voller Veränderungen. Unsere Videoanalyse zeichnet nach, wie Regisseurin Leonie Krippendorff, Noras Lebenswelt und das Miteinander der Jugendlichen darstellt und dabei immer wieder – auch filmästhetisch – Perspektiven und Wahrnehmung der jungen Figuren vermittelt.

"Jugendliche Lebenskultur und Erwachsenwerden in KOKON", Videoanalyse (Filmausschnitte: © Edition Salzgeber)

Im Folgenden können Sie die Video-Analyse auch im Textformat nachlesen:

Filmszene: Jule: "Hast du's ernsthaft gelöscht?" – Aylin: "Nora hat mich so von unten gefilmt, da sieht man fett aus." – Jule: "Das war voll das gute Video … " – Aylin: "Bedank' dich bei deiner kleinen Schwester." – Jule: "Willst du?"

Sprecher: Der Zum Inhalt: Coming-of-Age-Film "Kokon" spielt in der Gegend um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg – ein postmigrantisch-urbaner Mikrokosmos, in dem die 14-jährige Nora nach anfänglicher Zurückhaltung eine selbstbewusste Stimme findet und ihre Sexualität entdeckt. Bei der Eröffnung veranschaulichen hochkantige Smartphone-Aufnahmen, dass die Autorin und Regisseurin Leonie Krippendorff die heutige Jugendkultur und Noras Pubertät teilnehmend-beobachtend zeigen will – auf Augenhöhe mit den Figuren.

Filmszene: Nora (aus dem Zum Inhalt: Off): "Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis, von der einen Seite des Kottis zur andern und wieder zurück. So lange, bis wir irgendwann aus dem Becken springen."

Sprecher: Zugleich verweist die anschließende Verwendung des Zum Inhalt: Bildformats 4:3 auf die fiktionale Konstruktion der Erzählung. Noras Entwicklung geht mit einer lebhaften Darstellung großstädtischer Jugendkultur einher. Die Jugendlichen treffen sich im Freibad oder im Café Kotti, rauchen, langweilen sich und tanzen zu Hip-Hop. Die diverse Zusammensetzung der Clique aus Mädchen und Jungen mit und ohne Migrationshintergrund erscheint dabei als Selbstverständlichkeit. Im Prozess ihrer Selbstfindung steht Nora zwischen der konventionell denkenden Clique ihrer Schwester und der Freigeistigkeit von Romy aus der Parallelklasse. Filmszene: Jule: "Nora … starr da mal nicht so hin, das wirkt peinlich."

Sprecher: Eine ganz zentrale Rolle spielt die alltägliche Nutzung von Smartphones. Einerseits zu Zwecken der Selbstdarstellung in Form von Selfies oder Insta-Stories in den sozialen Medien, andererseits als Mittel zur Kommunikation und Information.

Filmszenen: Aylin: "Hier – Frischkäse."– YouTube-Tutorial: "Ich erinnere mich noch ganz genau an eine Nacht, ich war da 14 und alles war voller Blut." –
YouTube-Tutorial #2: "… dass der Junge einfach immer Blickkontakt sucht." – Aylin und andere : "Alter, du musst ja nicht gleich dein Handy zerschmettern."

Sprecher: Ein weiteres Motiv ist die Selbst- und Fremdwahrnehmung des eigenen Körpers. Jule und ihre Freundin Aylin befolgen den Normdruck, wenn beispielsweise das Schlucken von Wattebällchen beim schlank bleiben helfen soll. Filmszene: Aylin: "Machen auch voll viele Models."

Sprecher: Zwei Zum Inhalt: Szenen im Sportunterricht zeigen, wie die Jugendlichen den prüfenden Blicken der Anderen und den damit einhergehenden Schamgefühlen ausgesetzt sind: Filmszene: Jule: "… die hat so Wachstumsstreifen an den Titten." – Aylin: "Boah Alter, wie kann man sich so gehen lassen?" – Tarek: "Seid doch mal nicht so gemein, nicht jeder kann so gut aussehen wie ihr beiden." – Aylin: "Ey, mach mal so nen Zeitlupenfilter drüber." – Jule: "Warte … jetzt guck mal." – Aylin: "Boah, iiiiih, wabbel, wabbel …"

Sprecher: Ihre erste Menstruation erlebt Nora ausgerechnet vor den Blicken der Anderen: Filmszene: Schüler: "Oh shit!" – Schüler #2: "Guck ma, Ahmad hat Video gemacht."

Sprecher: Die filmische Perspektive auf Körperlichkeit kommt indes ohne falsche Scham aus. Jule reagiert mit peinlicher Betroffenheit auf die Menstruation ihrer Schwester. Filmszene: Jule: "Danke Nora – voll die Blamage!" Sprecher: Romy steht ihr hingegen unterstützend bei. Filmszene: Romy: "Gib mal deine Hose. Ich wasch die aus."

Sprecher: Schon in dieser ersten direkten Begegnung zwischen Nora und Romy liegt das Versprechen einer tiefen Zuneigung. Eine spätere Szene stellt audiovisuell sehr plastisch dar, wie Nora endgültig Gefühle für Romy entwickelt.Die filmische Gestaltung vollzieht Noras innere Entwicklungen nach. So wie Nora anfänglich meist still beobachtet, blickt die Zum Inhalt: Inszenierung den Figuren interessiert über die Schulter. Die von Martin Neumeyer geführte Handkamera folgt den Darstellerinnen, rückt nah ans sie heranund filmt mitten im Geschehen. Ein gestalterischer Clou ist, dass sich das 4:3-Format im letzten Drittel fast unmerklich zum Breitbild weitet. Achtet auf die Ränder. Für Nora beginnt mit der Intimität zwischen ihr und Romy ein neuer Lebensabschnitt. Die Verbreiterung des Bildformats vollzieht das filmisch nach. Und so sieht das im Zum Inhalt: Zeitraffer aus.

Parallel zu Noras Selbstfindung webt Leonie Krippendorff die titelgebende Kokon-Metapher in die Handlung ein. Noras Raupen leben zunächst in einem Einmachglas und fliegen zum Ende hin als Schmetterlinge davon. Ganz so wie Nora aufblüht und sich verändert. Nora ist kein Anhängsel mehr, weder eins ihrer Schwester, noch eins von Romy. Die Auswahl der Outfits verdeutlicht das, wenn Nora ihr neues Selbstbewusstsein mit einem Einhornkostüm zelebriert.

Filmszene: Nora (aus dem Off): "Obwohl Schmetterlinge sich im Kokon vollständig auflösen, erinnern sie sich an ihr Leben als Raupe. Sie erinnern sich, wie sie durch die Gegend gekrochen sind und alles von der Erde wahrnehmen mussten, was jetzt in der Luft ganz anders aussieht. Die Erinnerung ist alles, was dem Schmetterling von seinem Leben als Raupe bleibt – und mir von diesem Sommer."