Kategorie: Hintergrund
"Ida" - eine Hommage an das polnische Nachkriegskino
Sakrale Aura im Stil der Nouvelle Vague: über die klassische Bildsprache des Films.
Der Film spielt nicht nur im Polen des Jahres 1962, sondern sieht auch so aus. In einer aufregenden Bildsprache kreuzt "Ida" sakrale Motive mit dem Stil der europäischen Nouvelle Vague.
Paweł Pawlikowskis Film "Ida" (Polen, 2013) handelt von den inneren Konflikten zweier gegensätzlicher Frauen Anfang der 1960er-Jahre in Polen. Wanda Gruz hat unter dem stalinistischen Regime als Staatsanwältin und Richterin gedient und war ein angesehenes Mitglied der Kommunistischen Partei. Bei politischen Gegnern/innen war sie als "Rote Wanda" gefürchtet. Mit der Entstalinisierung in Polen ab 1956, im Zuge dessen die Partei einen gemäßigteren Kurs einschlug, brach Wandas ideologisches Weltbild in sich zusammen. Die 18-jährige Novizin Anna ist hingegen ein Kind der ersten Nachkriegsgeneration. Sie wuchs in einem katholischen Waisenhaus auf, über ihre Herkunft weiß sie nichts. Die Begegnung der beiden Frauen wird auch zu einem Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart.
Persönliche Erinnerung der Kindheit
"Ida" dreht sich um eine vergessene Familiengeschichte und ein nationales Tabu (Antisemitismus in Polen), das bis heute kontrovers diskutiert wird. Aber auch formal tritt Pawlikowskis Film in einen Dialog mit der Vergangenheit. Der Regisseur hat in Interviews wiederholt betont, dass "Ida" ein für ihn sehr persönlicher Film über seine Kindheit in Polen sei. Auf seiner Suche nach einer Ästhetik, die diese Kindheitserinnerungen aufgreift und in atmosphärische Bilder übersetzt, fand Pawlikowski Inspiration beim polnischen Kino, das sich Anfang der 1960er-Jahre wie die gesamte kulturelle Landschaft Polens im Wandel befand.
Neorealismus im polnischen Nachkriegskino
Die klassische Bildsprache von "Ida" ist auch als Hommage an das frühe polnische Nachkriegskino zu verstehen, für das Regisseure wie Andrzej Wajda ("Asche und Diamant" (Popiól i diament), 1958) oder Jerzy Kawalerowicz ("Nachtzug" (Pociag), 1959) prägende Figuren darstellen. Der italienische Neorealismus mit seinen Vorstreitern Roberto Rossellini und Vittorio De Sica, die den Alltag der einfachen Bevölkerung mit einem Zum Inhalt: dokumentarischen Anspruch erzählten, war Anfang der 1950er-Jahre ein wichtiger Bezugspunkt. Er prägte ein polnisches Nationalkino, das noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Kriegsfolgen stand.
Bezüge zu Nouvelle Vague und "transzendentalem" Film
Pawlikowski benutzt diese aus heutiger Sicht strengen formalen Mittel besonders in jenen Szenen, die Annas Leben im Konvent beschreiben, und verleiht den Bildern damit eine fast puritanische Sachlichkeit. Der Katholizismus spielte auch in der Ästhetik des Neorealismus, dem Kino der "kleinen Leute", eine zentrale Rolle. Oft bleibt die Zum Inhalt: Kamera unbeweglich, was für die Sehgewohnheiten eines jungen Publikums zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Etwa in Einstellungen, in denen Anna sich aus großer Entfernung langsam auf den Bildvordergrund zubewegt. Ein weiteres wiederkehrendes Stilmittel sind Zum Inhalt: Naheinstellungen auf die Gesichter der beiden Frauen (wobei Anna/Ida meist Zum Inhalt: gut ausgeleuchtet zu sehen ist, während das Gesicht der schuldbelasteten Wanda oft im Halbschatten erscheint), eine deutliche Referenz an die "transzendentale" Schule des europäischen Autorenkinos (Robert Bresson, Carl Theodor Dreyer) mit stark religiösen Bezügen. Dreyer benutzte in seinem Stummfilm "Die Passion der Jungfrau von Orleans" (La passion de Jeanne d'Arc, Frankreich, 1928) zum Beispiel extreme Großaufnahmen auf das Gesicht seiner Hauptdarstellerin Maria Falconetti, um ihrem Martyrium eine größere emotionale Wirkung zu verleihen.
Die Metamorphose einer jungen Frau
Pawlikowski bedient sich eines vergleichsweise zurückgenommenen Stils, wenn auch seine Einstellungen von Anna/Ida ebenfalls eine ikonische Qualität besitzen. Als die junge Frau in der ehemaligen Scheune der Eltern steht und sich an ihre Kindheit zu erinnern versucht, fällt durch das einzige Fenster (in das ihre Mutter Roza farbiges Glas eingefügt hat) Licht auf Wandas Gesicht, das ihr eine sakrale Aura verleiht. Wanda wiederum relativiert die Bedeutung dieses Moments mit dem sarkastischen Kommentar: "Typisch Roza, Kirchenfensterglas neben Kuhscheiße!" Ähnlich inszeniert der Regisseur Anna/Ida, wenn sie in einer anderen Schlüsselszene erstmals ihre Haube ablegt und ihre langen Haare über die Schultern fallen. Die Novizin Anna, die ihr bisheriges Leben nach strengen Glaubensvorgaben ausgerichtet hat, durchläuft eine Metamorphose und entpuppt sich als - sehr ernste - junge Frau Ida.
Jazz als Lebensgefühl
Interessanterweise inszeniert Pawlikowski ausgerechnet die Szenen von Anna/Ida im klassischen Stil. Es ist die desillusionierte Wanda, eigentlich eine Repräsentantin des alten Regimes, die in "Ida" die entscheidenden Impulse für eine offenere Filmsprache liefert. Wanda führt Anna in die wilden Jazzschuppen, in denen sich die polnische Nachkriegsjugend vergnügt: ein kleiner Vorgeschmack auf ein neues, modernes Polen, das stark vom Leben in den Städten geprägt ist und "Ida" in diesen Momenten einen impulsiven Rhythmus verleiht. Besonders in den Clubszenen nimmt Pawlikowski Bezug auf eine Entwicklung im polnischen Kino, die maßgeblich vom Zum Inhalt: Jazz beeinflusst war und Anfang der 1960er-Jahre in der "Neuen Welle" gipfelte.
Verknüpfung von Tradition und Moderne
1962 – das Jahr, in dem "Ida" spielt – debütierte Roman Polanski mit "Das Messer im Wasser" (Nóz w wodzie). Die Zum Inhalt: Musik stammte von Krzysztof Komeda, einem der einflussreichsten Jazzmusiker Polens. Im folgenden Jahr übernahm Regie-Assistent Witold Lesiewicz mit Andrzej Munks damals unvollendetem Meisterwerk "Die Passagierin" (Pasazerka) das posthume Vermächtnis eines anderen Erneuerers des polnischen Kinos. Pawlikowski verbindet also die historische Geschichte von "Ida" mit einer Hommage an das polnische Kino seiner frühen Jugend. Der gesellschaftliche Wandel, den er anhand seiner weiblichen Hauptfiguren nachzeichnet, findet im Film auf formaler Ebene, im Zusammenspiel von Tradition und Moderne, eine Entsprechung.