Zeitalter des Fortschritts

Das 18. Jahrhundert erscheint heute als ein Zeitalter des Fortschritts und der Aufklärung, das wichtige naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse hervorbrachte und großen Teilen der Bevölkerung einen Zugang zu schulischer Bildung ermöglichte. Diese Einschätzung ist selbstverständlich nicht falsch. Historiker/innen vermuten, dass sich der Bestand an Büchern in privatem und öffentlichem Besitz zwischen 1680 und 1780 verzehnfachte. Die Bürger/innen können lesen, und sie lesen viel: Erbauungsbücher, Ratgeber, moralische Wochenschriften, Romane und Reiseerzählungen.

Empathie und Ordnung

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen werden verstärkt reflektiert. Zahlreiche Schriften der Aufklärung widmen sich voller Euphorie den Themen Freundschaft und Geselligkeit. Ein zweckfreies Miteinander, das auf Neigung und dem Wunsch nach gegenseitigem Austausch beruht, wird auf der einen Seite als edler, menschlicher Charakterzug gefeiert. Auf der anderen Seite bleibt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine ständische Gesellschaftsordnung ohne nennenswerten Widerspruch bestehen, und diese regiert auch in die intimen Beziehungen des Einzelnen hinein.

Geschlechterrollen

Neben den Schranken zwischen Adel und Bürgertum dominieren tradierte Rollenbilder von Mann und Frau. Das Zeitalter der Vernunft löst diese Rollenzuschreibungen nicht etwa auf, sondern zementiert sie zeitweise sogar, indem es religiöse durch anthropologische Begründungen ersetzt oder ergänzt. Die Frau gilt als zart, emotional, duldend, der Mann als aktiv, rational, durchsetzungsfähig. Entsprechend bleibt allein dem Mann die Tätigkeit in Politik, Wissenschaft und Erwerbsleben vorbehalten. Der Wirkungsbereich der Frau hingegen findet sich in Haushalt, Kindererziehung und Fürsorge für den Ehemann.

Gefühle als Risiko

Liebe ist in dieser Ordnung immer ein Risiko. Wenn sich Menschen zudem über Standesgrenzen hinweg verlieben, sind ernsthafte Konflikte vorprogrammiert. In Lessings Emilia Galotti (1772) und Schillers Kabale und Liebe (1784) wird dies konsequent und bis zum tragischen Ende durchgespielt. Emilia ist nicht in der Lage, eine mündige Entscheidung über ihr Leben zu treffen, auch die Bürgertochter Luise Miller scheitert an den Fesseln ihrer strengen christlichen Moral. Zudem trägt in beiden Fällen die tiefe Abhängigkeit vom Vater als Familienoberhaupt und Bewahrer lebensfeindlicher Prinzipien zum tödlichen Ausgang bei.

Vernunft versus Gefühl

Verständlich wird gerade das Verhalten der Väter nur dann, wenn man bedenkt, dass die Idee einer selbstbestimmten Liebesheirat den Menschen des 18. Jahrhunderts noch fremd ist. Ehen werden zwischen Familien verabredet. Dabei bleiben die Stände fast immer unter sich, und die Paare finden sich vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten zusammen. Liebe ist in der mentalen Orientierung der Menschen nicht akzeptiert als ein Wesenszug autonomer Menschen, sondern nur als Regung, die sich den familiären und ständischen Gesetzen unterordnet. Dieses Prinzip gilt in unterschiedlicher Ausprägung für alle Menschen des absolutistischen Staates, von der einfachen Landbevölkerung bis zum Hofadel.

Charlotte Buff

Charlotte Buff ist ein gutes historisches Beispiel dafür: Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr ist sie dem Legationssekretär am Wetzlarer Reichskammergericht Johann Christian Kestner als Ehefrau versprochen. Die Vereinbarung ist noch vor dem Tod von Charlottes Mutter getroffen worden, und wie selbstverständlich übernimmt die junge Frau nach deren Ableben zwischenzeitlich die Rolle einer Ersatzmutter für ihre vielen Geschwister. Man darf annehmen, dass Charlotte trotz ihrer kurzzeitigen Nähe zu Goethe ihren vorgezeichneten Lebensweg als Frau Kestner nie ernsthaft in Zweifel gezogen hat.

... und die Männer

Auch in ihrem Leben ziehen Männer die Fäden: der Vater und ihr späterer Mann. In Goethe, dem ungestümen und ungefestigten Sohn eines wohlhabenden Frankfurter Juristen, verbinden sich die Ambitionen eines zunehmend autonom handelnden Bürgertums mit den emotionalen Energien eines jungen Mannes. Für einen Augenblick stellt er das Gefüge der Familie Buff-Kestner in Frage. Es ist eine interessante, aber auch spekulative Frage, was der junge Goethe getan hätte, wäre eine Verbindung mit Charlotte Buff unvermutet doch möglich geworden. Philipp Stölzl pointiert in Zum Filmarchiv: "Goethe!" (Deutschland 2010) die Frage, indem er Lotte selbst an der Vorstellung zweifeln lässt, Goethe könne jemals an Kestners Stelle treten.

Stimme einer Generation

Wichtiger als die Antwort auf diese Frage ist die Tatsache, dass es Goethe gelang, die Erfahrung der enttäuschten Liebe literarisch auf eine Weise zu verarbeiten, die bei seinen Zeitgenossen einen Nerv traf. Nach dem Erscheinen des Buches schüttelte das "Werther-Fieber" das ganze Land durch, begleitet von scharfen Protesten aus Kirchenkreisen und etlichen Suiziden von Nachahmern/innen.

Unterschiedliche Lebenskonzepte

In Die Leiden des jungen Werther (1774) sind es weniger die Standesgrenzen, die unüberwindlich sind, es sind die Barrieren zwischen unterschiedlichen Lebenskonzepten: einem bürgerlich geregelten und einem antibürgerlichen, auf Entgrenzung und Gefühlsüberschwang ausgerichteten Dasein. Die Verachtung für Konvention und die Betonung des eigenen Gefühls als autonome Instanz, wie sie von der jungen Dichtergeneration des Sturm und Drang propagiert wurde, füllte eine Leerstelle im Bewusstsein des späten 18. Jahrhunderts: Während sich das rationale Denken in vielen Bereichen entfaltet und erprobt hatte, blieben die emotionalen Spielräume in der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen begrenzt.

Werther als Vorbild

Werthers unbedingte Liebe und seine selbstzerstörerische Antwort auf ihr Scheitern musste unter den Zeitgenossen starke Reaktionen auslösen: Den einen öffnete Goethe eine Tür zu eigenen, bisher unverstandenen Möglichkeiten menschlicher Existenz, in den Augen anderer sprengte er die Grundfesten menschlichen Zusammenlebens.

Die Liebe siegt?

Die Idee der Liebesheirat bleibt für Werther und Lotte eine Unmöglichkeit. Die Frühromantik geht einen entscheidenden Schritt vorwärts. Friedrich Schlegel formuliert die These, dass Ehe und Liebe untrennbar zusammengehören, 1799 in seinem Roman Lucinde zum ersten Mal konsequent aus. Eine Generation später wird der Gedanke Allgemeingut, wenngleich im Alltag des Bürgertums die Liebesheirat oftmals Wunschdenken bleibt. Theodor Fontanes Roman Effi Briest zeigt, dass auch hundert Jahre nach dem Werther der Widerspruch zwischen Vernunftehe und einer Beziehung aus Leidenschaft Sprengkraft besitzt.