Von Genies und Sterbenden

Im Irrenhaus beichtet ein greiser Insasse einen Mord. Es ist der ehemalige Hofkapellmeister Antonio Salieri, der in Milos Formans Mozart-Film (USA 1984) als neiderfüllter Gegenspieler der Titelfigur auftritt. Forman lässt uns Mozart durch Salieris Augen sehen: ein kindisches Genie, dem die musikalischen Eingebungen wie reife Früchte in den Schoß zu fallen scheinen, und der sich erst im Angesicht des Todes zu einer ernsthaften Anstrengung, dem unvollendet gebliebenen Requiem (1791), aufrafft. Mit diesen Zuspitzungen markiert Forman die beiden Pole, zwischen denen sich die Darstellung künstlerischer Schaffensprozesse im Film bewegt: die Inspiration als göttlicher Funke und das Ringen mit dem Tod.

Quellen der Inspiration

Goethe!

Warner Bros. Pictures Germany

Auch in Philipp Stölzls Zum Filmarchiv: "Goethe!" (Deutschland 2010) erscheint das dichterische Genie - wie die von ihm besungene Liebe - im Wesentlichen als unerklärliche Himmelsmacht. Dem 22-jährigen Goethe fallen Verse "einfach so ein", wie er einem Freund gesteht, wobei sich die Inspiration offenbar je nach Literaturgattung andere Wege sucht: Lyrik entzündet sich an Naturbetrachtungen, der vielzitierte Höhepunkt des Götz von Berlichingen (1773) am Schauspiel einer Doktor-Prüfung und der Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) an Goethes unglücklicher Liebe zu Lotte Buff. Letzteres hinterlässt den stärksten Eindruck auf den Dichter. Gleich zwei Mal sucht der Liebeskranke den Tod. Zunächst duelliert er sich mit seinem Nebenbuhler Kestner, einem erfahrenen Schützen, der ihn verschont und stattdessen ins Gefängnis werfen lässt. In der Zelle spielt Goethe dann mit dem Gedanken, sich selbst zu töten, bringt aber in einem wahren Schaffensrausch seine Erlebnisse zu Papier und lässt ein fiktives Ich an seiner Stelle in den Freitod gehen.

Vom Erleben zur Kunst

So schreitet der junge Goethe in Stölzls Interpretation die von Formans vorgegebenen Pole ab und fügt ihnen ein zentrales Motiv hinzu: die Transformation des eigenen Lebens in Kunst. Besonders anschaulich wird diese Verwandlung auch in John Maddens "Shakespeare in Love" (USA, Großbritannien 1998). Hier kommt der junge Theaterautor so lange nicht mit seinem neuesten Stück voran, bis er sich selbst verliebt und darin die nötige Inspiration findet. Sein Werben um die mit einem Adligen verlobte Viola liefert die Vorlage zu Romeo und Julia (1597): Das Leben nimmt Züge einer Theaterprobe an, in der die Personen Dialoge und Handlung des unvollendeten Stücks improvisierend fortentwickeln. Am Ende braucht Shakespeare die Dinge nur noch etwas auszuschmücken und zu Papier zu bringen.

Verse wie Liebkosungen

Bright Star

Tobis

Die Liebe und ihre Konflikte sind auch in Jane Campions (Bright Star, Großbritannien, Frankreich, USA, Australien 2009) wesentliche Antriebe des künstlerischen Schaffens. John Keats und Fanny Brawne können nicht heiraten, weil dem erfolglosen Lyriker die finanziellen Mittel fehlen. Die Erfüllung ihrer Liebe muss warten und findet ein Ventil in dichterischer Schwärmerei. In der einzigen Bettszene des Films tauschen die vollständig bekleideten Keats und Brawne Verse wie Liebkosungen aus. Die Sublimation liefert in allen besprochenen Filmen das maßgebliche Erklärungsmodell für die künstlerische Produktion.

Künstlerleben

Historische und soziokulturelle Aspekte kommen immerhin in wichtigen Nebenrollen zu ihrem Recht. So erklärt sich Shakespeares Schreibblockade nicht zuletzt aus dem zeitlichen und wirtschaftlichen Druck, dem sich der aufstrebende Schriftsteller ausgesetzt sieht. Goethe fügt sich, nachdem sein Götz von Berlichingen-Manuskript vom Verlag abgelehnt wurde, in den väterlichen Karriereplan und muss trotzdem erleben, wie seine große Liebe aus Pflichtgefühl die in finanzieller Hinsicht bessere Partie wählt. Den früh verstorbenen Keats trifft es am ärgsten: Er erleidet das traurige Schicksal eines zu Lebzeiten verkannten Genies.

Das Leiden der Dichter

Das Leiden des Dichters, seine Selbstzweifel und sein Liebeskummer, rühren also immer auch von seiner vergleichsweise niedrigen Stellung im sozialen Gefüge her. Seine Werke werden dabei zu Hebeln, um die liebesfeindliche, soziale Realität aus den Grundfesten zu heben. Shakespeare warnt in Romeo und Julia eindringlich davor, das Glück junger Liebender zu sabotieren, und in Zum Filmarchiv: "Goethe!" führt die Geschichte des Jungen Werther zu dem bekannten, gegen die Gesellschaft gerichteten Liebeskult.

Der schöpferische Moment

Der blinde Fleck des Künstlerfilms ist der schöpferische Moment. Da ein Schreibtischtäter visuell nicht viel hergibt, wird das im Schaffensrausch zum Ausdruck kommende Gefühl meist in der Rezeption des Werks nachgeholt. In Zum Filmarchiv: "Goethe!" und besteht das Publikum jeweils aus der Muse des Dichters. Stölzl greift dabei auf das konventionelle Stilmittel einer mit wechselnden Großaufnahmen aufgelösten intimen Aussprache zurück, während Jane Campion diesen Dialog beinahe über den halben Film ausdehnt und ihn zu ihrem eigentlichen, in poetischen Bildern beschworenen Gegenstand erhebt. Bei "Shakespeare in Love" gehen die Proben des fertigen Stücks in Bilder der triumphalen Premiere über, der göttliche Funke springt von der Bühne in den Saal.

Spiegeleffekte: Film-Dichtung

Houwelandt - Ein Roman entsteht

Film Kino Text

Ein interessantes Motiv des Künstlerfilms liegt in seinem Spiegeleffekt: Auch die Regisseure/innen transformieren das Leben, nämlich das biografische Material, in eine filmische Erzählung. Dabei müssen sie sich gewisse Freiheiten erlauben, wenn sie den künstlerischen Schaffensprozess visuell ansprechend darstellen wollen, und dürfen sich doch nicht zu weit vom biografischen Kern entfernen. In dieser Hinsicht hatte es John Madden am einfachsten, weil das kaum dokumentierte Leben William Shakespeares ohnehin zu Spekulationen zwingt. Anders sieht es bei Zum Filmarchiv: "Goethe!" aus. Hier spitzt Stölzl nach Belieben zu und lässt kaum einen Stein auf dem anderen, um ein jugendliches Gegenbild zum ehernen Klassiker zu schaffen. Das Ergebnis kann man sowohl als geglückte Verdichtung wie als unnötige Trivialisierung empfinden. Generell kommen in allen Filmen das schriftstellerische Handwerk zu kurz und der individuelle Antrieb der Dichter, sich die Poesie zum Sprachrohr zu machen. Die mühselige Disziplin des Schreibens, wie sie der Zum Inhalt: DokumentarfilmDokumentarfilm "Houwelandt - Ein Roman entsteht" (Jörg Adolph, Deutschland 2005) zeigt, ist allen Protagonisten weitgehend unbekannt. Stölzl variiert an diesem Punkt ein Motiv aus : Sein Goethe schreibt, weil er mit Talent gesegnet ist und gar nicht anders kann als dieses Geschenk zu teilen.